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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Streiter Christi das karge Dasein von Mönchen fristeten – mit dem Unterschied, dass ihr Einfluss den gewöhnlicher Mönche bei Weitem übertraf.
    Soweit Rowan es beurteilen konnte, unterschied sich Jerusalem von allen anderen Städten, in denen er je gewesen war. Die Betriebsamkeit und das Gedränge in den Gassen waren unvergleichlich. Unter gestreiften Baldachinen hatten Händler ihre Waren ausgebreitet, aus Läden und Tavernen, die sich tief ins Innere gedrungener Gebäude erstreckten, drangen exotische Gerüche. Männer und Frauen drängten sich auf den lärmenden Straßen – Handwerker, die ihre Dienste feilboten, Mönche verschiedener Orden, Wasserverkäufer, Pilger in zerschlissenen Gewändern, Diener auf Botengängen, Soldaten der Stadtwache und noch viele mehr. Händler zerrten schwer beladene Kamele hinter sich her, dazwischen ragten vornehm gekleidete Herren und Damen aus der Masse, die hoch zu Ross reisten oder in Sänften getragen wurden.
    Nicht weniger faszinierend als das bunte Durcheinander waren die vielen Stimmen und Sprachen, die allenthalben zu hören waren – neben den Pilgern aus dem Abendland waren auch Armenier und Griechen anzutreffen, dazu Turban tragende Türken, mit Kaftan und Burnus bekleidete Berber sowie Menschen aus Afrika, deren Haut so dunkel war, als wäre sie von der Sonne verbrannt. Sie alle in – so jedenfalls schien es – trauter Einheit zu sehen verwirrte Rowan, und Dutzende von Fragen lagen ihm auf der Zunge, die er Cuthbert gerne gestellt hätte. Er ließ es bleiben, da er sich vor dem seltsamen Benediktiner keine Blöße geben wollte. Sein Erstaunen jedoch blieb und wurde immer größer.
    Über die via dolorosa folgten sie am Morgen des dritten Tages dem Leidensweg des Herrn und gelangten zur Kirche des Heiligen Grabes.
    Aus Erzählungen wusste Rowan, dass jener Bau, der im Nordwesten der Stadt auf uralten Felsen thronte, nicht derjenige war, der in den alten Tagen dort errichtet worden war; die Heiden hatten ihn vernachlässigt und teilweise zerstört, erst nach der Eroberung der Stadt durch das christliche Heer war die Kirche wieder aufgebaut worden – ein gewaltiger, von einer hohen Kuppel bekrönter Bau, der sich über jenem Felsengrab erhob, in das die sterbliche Hülle des Herrn einst gebettet worden und aus dem er auferstanden war.
    Obwohl es noch früher Morgen war, warteten bereits viele Gläubige, die die Kirche besuchen und das Heilige Grab mit eigenen Augen sehen wollten. An der Seite seines neuen Meisters reihte sich Rowan in die Schlange ein, die sich vor dem Kirchenportal gebildet hatte. Pilger stimmten Choräle an, allenthalben falteten die Menschen die Hände und beteten – und Rowan konnte nicht verhindern, dass sich ein seltsames Gefühl seiner bemächtigte.
    Was in aller Welt tat er hier?
    Schon am Ölberg hatte eine eigenartige Rührung von ihm Besitz ergriffen, und nun hatte es den Anschein, als wollte dieses Gefühl zurückkehren – und das ungewollt.
    In all den Jahren, in denen er im Kloster gelebt und den Mönchen als Laie gedient hatte, hatte er derlei Gefühle niemals zugelassen, hatte sich dagegen gewappnet wie ein Ritter zur Schlacht, ebenso wie er sich gegen die Regeln des Klosterlebens gewappnet hatte, gegen das Evangelium und die heiligen Mysterien. Vielleicht, weil sie ihm von früher Jugend an eingebläut worden waren, oft genug mit harten Schlägen. Vielleicht aber auch, weil diejenigen, die das Wort Gottes verkündeten, seiner Erfahrung nach oft am weitesten davon entfernt waren. Zwar hatte Rowan die Lehren der Kirche gehört, kannte die Heilige Schrift und war sogar in der Lage, sie selbst zu lesen, jedoch hatte er sich ihrer Botschaft stets verweigert. Nun wurde ihm plötzlich klar, dass er das nicht mehr konnte.
    Nicht an diesem Ort.
    Furcht befiel ihn, während sich der Zug der Pilger unaufhaltsam weiterwälzte, Schritt für Schritt. Ihren Gesang und ihre Gebete hörte Rowan nicht, er hatte nur Augen für das große Portal, das vor ihnen aufragte, und die dunkle Stille, die dahinter herrschte – und je näher sie ihm kamen, desto mehr verspürte Rowan den Drang, sich zur Flucht zu wenden.
    Cuthbert schien seine wachsende Unruhe zu spüren und schickte ihm einen fragenden Blick, dem Rowan auswich. Er wollte nicht darüber reden, sich nicht rechtfertigen müssen für etwas, das er selbst nicht verstand. Trotzig verharrte er in der Schlange, und schließlich betraten sie über die steinernen Stufen den geweihten Ort.
    In dem

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