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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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schlagen. Die Entscheidung, dieser Furcht nachzugeben und sowohl Raymonds Warnung als auch seiner eigenen Vernunft zum Trotz mit dem gesamten Heer gen Osten zu marschieren und Saladin zu einer offenen Feldschlacht herauszufordern, lag gerade einen Tag zurück.
    Und Guy de Lusignan, das gekrönte Oberhaupt von Jerusalem, bereute sie bereits.
    Nicht genug damit, dass die Sonne erbarmungslos von einem glutweißen Himmel stach und die Luft über der Senke in Flammen zu setzen schien; dass der Durst brennend heiß war und bereits einige Pferde und Maultiere verendet waren; dass die Marschordnung sich aufgelöst hatte und Reiterei und Fußtruppen einander verloren hatten. Nein, soeben waren die Boten zurückgekehrt, die Raynald zur Vorhut gesandt hatte, und die Kunde, die sie brachten, war niederschmetternd.
    »Und es besteht kein Zweifel?«
    »Nein, Herr.« Der Anführer des Trupps, ein berittener Kämpe aus Raynalds Gefolge, schüttelte das behelmte Haupt. »Die Höhenzüge zu beiden Seiten sind von Sarazenen besetzt. In der Hauptsache Fußvolk, darunter viele Bogenschützen.«
    Guy merkte, wie sein Gesicht unter dem Helm heiß wurde. Es rührte nicht von der Glut der Wüste her, sondern kam aus seinem Inneren und war einer einzigen hässlichen Erkenntnis geschuldet.
    Er hatte einen Fehler begangen!
    Seine Blicke flogen nach Süden und gleich darauf gen Norden, doch überall sah er nur die schroffen Höhen, die die Senke von Hattin säumten. Und überall lauerte der Feind.
    Er hatte sich von dieser Nachricht noch nicht erholt, war noch nicht dazu gekommen, nach einem Ausweg zu suchen, als ein weiterer Bote heransprengte, ein Angehöriger des Johanniterordens. Sein weißer Rock gleißte im Sonnenlicht, während er durch die Ebene jagte, eine Staubwolke hinter sich herziehend – und noch ehe er ganz heran war, ahnte Guy, dass mit ihm auch der Untergang nahte.
    »Was gibt es?«, rief Raynald, der wie immer nicht von der Seite seines Königs wich. Allerdings fand Guy, dass die gedrungene Gestalt des Herrn von Antiochia längst nicht mehr jene Überlegenheit ausstrahlte, die ihm in der Vergangenheit stets Zuversicht gegeben hatte.
    »Mein König!«, rief der Johanniter, während er sein Pferd mit Gewalt zügelte und aus dem Sattel sprang, um sich tief vor Guy zu verneigen. »Die Nachhut wird angegriffen!«
    »Die Nachhut?«
    Während Guys Verstand noch entsetzt nach einer Erklärung suchte, war Raymond sofort klar, was dies zu bedeuten hatte. Der Graf von Tripolis, der ebenfalls im Tross des Königs ritt, lenkte sein Pferd heran. Obschon er entschieden dagegen gewesen war, nach Tiberias zu marschieren, hatte er sich dem Heereszug angeschlossen, um, wie er sagte, seine Treue zur Krone unter Beweis zu stellen. Nur missgünstige Zungen behaupteten, dass der zur Rechthaberei neigende Raymond bloß dabei sein wolle, wenn sich seine Warnungen als berechtigt erwiesen.
    »Ein Hinterhalt!«, rief er. »Mein König, genau davor hatte ich Euch gewarnt!«
    »Was Ihr nicht sagt, Raymond«, konterte Raynald de Chatillon. »Und woher stammt Euer Wissen, wenn es erlaubt ist zu fragen?«
    »Was wollt Ihr damit sagen?«
    »Was wohl?« Der streitsüchtige Graf von Antiochia brachte sein Streitross an das von Raymond. »Jeder weiß, dass Ihr mit den Heiden paktiert habt, und womöglich tut Ihr das ja immer noch. Zumal sich Euer Eheweib in Saladins Gewalt befindet und Ihr vermutlich alles tun würdet, um sie zu retten.«
    »Das wollt Ihr mir unterstellen?« Raymonds Brauen hoben sich unter dem Rand von Helm und Haube, während er nach dem Schwert griff. »Wenn Ihr mir vorwerfen wollt, dass ich meinen König und meinen Glauben auf so schändliche Weise verraten habe, Chatillon, so solltet Ihr Euch besser darauf vorbereiten, Eurem Schöpfer hier und jetzt …«
    »Haltet ein! Seid Ihr von Sinnen?«
    Guy hörte sich selbst reden, ohne recht zu wissen, was er sagte. Wie immer sprach er bedächtig und etwas zu langsam, jedoch schien genügend Autorität in seiner Stimme zu liegen, dass sie zu den beiden Kontrahenten durchdrang.
    Nicht nur Raynald und Graf Raymond wandten ihm ihre Aufmerksamkeit zu. Die Augen aller Adeligen, die im königlichen Tross ritten, richteten sich auf ihn. Dem König war klar, dass dies der Augenblick war. Die Stunde, da er aus seinem eigenen Schatten treten musste, hinaus ins Licht der Geschichte …
    »Ganz gleich, wie verschlagen der Gegner sein mag oder wie viele Heiden dort draußen auf uns lauern mögen: Wir werden

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