Das verschollene Reich
Augen und zornverzerrtem Gesicht auf sich zukommen sah, auch dann nicht, als er die Klinge in ihrer Hand erblickte. Er verstummte erst, als sie ihm den Stahl mit der ganzen Wucht ihres Anlaufs in die Eingeweide trieb.
Sie schrie etwas auf Arabisch, das Rowan nicht verstand, dann stieß sie ihn von sich, und er wankte einige Schritte zurück, einen Ausdruck im Gesicht, den Rowan nie vergessen würde.
Schmerz stand darin zu lesen und Entsetzen. Vor allem aber Fassungslosigkeit, beinahe grenzenloses Erstaunen.
Plötzlich trat Mercadier ins Leere.
Ohne es zu bemerken, hatte er sich dem Rand der Kluft genähert. Einen Moment lang ruderte er noch mit den Armen, ein bizarrer Anblick angesichts des Schwertes, das in ihm steckte, dann kippte er vollends in die gähnende Leere, die ihn schon einen Lidschlag später verschlungen hatte.
Rowan war wie erstarrt vor Entsetzen. Auch Cassandra stand völlig reglos da und blickte auf die Stelle, an der ihr Peiniger verschwunden war. Dann aber wurde ihm klar, dass sie rasch handeln mussten, denn die Lethargie, in die die Krieger beider Lager gefallen waren, würde nicht lange anhalten.
Mercadier hatte bewiesen, dass er nicht vorgehabt hatte, sich an seinen Teil der Abmachung zu halten. Zudem war das Ende des Zweikampfes alles andere als klar. Gab es einen Sieger? Einen Verlierer? Fürst Ungh-Khan war klug genug, schnell zu handeln. Schon hob sich die Zugbrücke mit lautem Ächzen, und das Fallgitter im Tor wurde rasselnd herabgelassen.
»Cassandra! Komm, wir müssen fort von hier!«
Ohne abzuwarten packte Rowan sie an der Schulter und riss sie herum, und sie begannen beide zu laufen, der Brücke entgegen, die bereits zwei Ellen hoch über dem Boden schwebte.
»Los doch! Spring!«
Mit einem weiten Satz retteten sie sich auf die Holzplanken, die unter ihrem Gewicht erbebten. Halb liefen sie, halb schlitterten sie die Brücke hinab, passierten das Tor, indem sie in geduckter Haltung unter dem sich senkenden Gitter hindurchschlüpften. Dann wurden auch schon die Torflügel geschlossen – und draußen auf dem Plateau erhob sich das tausendfache Geschrei des heranstürmenden Feindes.
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21
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»Wie die Fische, die im bösen Netze sich fangen, wie die Vögel, die in der Schlinge stecken, so werden die Menschen verstrickt zur Zeit des Unheils.«
Prediger 9,12
Hattin
Am selben Tag
Wenn es die Hölle gab, musste sie diesem Ort gleichen, davon war Guy de Lusignan überzeugt.
Steine, wohin man blickte.
Tote Hügel aus Sand und Staub.
Felsen, die sich wie Hörner erhoben.
Unwegsames, karges Land, das in der Hitze des Vormittags flimmerte.
Obwohl Guy das alte arabische Sprichwort kannte, demzufolge es nicht lohnte, sich über verschüttetes Wasser zu streiten, konnte er nicht anders, als über das nachzusinnen, was während der letzten Tage geschehen war, über die Entscheidungen, die getroffen worden waren und die sie schließlich hierhergeführt hatten, in diesen Vorhof der Hölle.
Schon in Acre hatte Graf Raymond seinen Bedenken, gegen Tiberias zu marschieren, deutlich Ausdruck verliehen, und auch zwei Tage später, als sich das christliche Heer bei den Brunnen von Sephoria vereinte, hatte der Herr von Tripolis noch einmal seine Meinung kundgetan und betont, dass die Wüste im Sommer ein mindestens ebenso grausamer Gegner sei wie Saladins Krieger.
Sie hatten ihn verlacht.
Zuvorderst Raynald de Chatillon, der keine Gelegenheit ausließ, den Grafen zu diffamieren, und kein Hehl daraus machte, dass er nichts von der Annäherung zwischen ihm und dem König hielt; aber auch Gérard de Ridefort, der nach der schmachvollen Niederlage von Cresson darauf brannte, die Ehre des Templerordens in Strömen von sarazenischem Blut reinzuwaschen; dazu noch einige andere, die schon in der Vergangenheit stets dann zur Stelle gewesen waren, wenn es darum ging, Raynald und Gérard den Rücken zu stärken, und wäre es nur, weil sie sich selbst einen Vorteil davon versprachen.
Und auch er selbst, Guy de Lusignan, hatte schließlich gelacht.
Nicht deshalb, weil ihm zum Lachen zumute gewesen wäre oder weil er Raymonds Einwände tatsächlich so lächerlich fand. Sondern weil eine Angst ihn noch ungleich mehr quälte als die vor Saladins Rache: die Furcht davor, als Zauderer in die Geschichte des Königreichs einzugehen, als Feigling, der im entscheidenden Moment zurückgewichen war, statt mutig voranzuschreiten und im Vertrauen auf die Stärke des Allmächtigen die Heiden in die Flucht zu
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