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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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ihnen nicht den Gefallen tun, uns gegenseitig umzubringen«, verkündete er und gab sich Mühe, all die Überzeugung in seine Worte zu legen, die er bislang hatte missen lassen. Erst jetzt, angesichts des nahen Feindes und der bevorstehenden Schlacht und des Gefühls, dass nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen war, schien er sie zu finden. »Ganz gleich, was geschehen sein mag, welcher Meinung wir in der Vergangenheit gewesen sein, wen wir als unseren Verbündeten oder als unseren Feind angesehen haben mögen – in diesem Augenblick sind wir alle vereint. Ob zum Sieg oder zum Untergang, wird sich weisen an diesem Tag, der in die Annalen des Königreichs eingehen wird als der Tag, an dem die Streiter des Herrn einig zusammenstanden, um gegen die heidnische Bedrohung zu kämpfen, einig wie Brüder, auf dass nie wieder ein Heide seinen unreinen Fuß auf diese heilige Erde setzen möge!«
    Er hatte zu leise und einmal mehr zu langsam gesprochen, um andere mitzureißen und lauten Jubel hervorzurufen, doch als er seinen Blick reihum schweifen ließ und in die Gesichter seiner Mitstreiter blickte – in das aschfahle Antlitz seines Schwagers Humphrey; in die wie immer gerötete Miene Raynalds; in die blutunterlaufenen, nach Rache dürstenden Augen Gérards; in die regungslosen Züge Graf Raymonds – und in ihnen eine stille Übereinkunft fand, den eisernen Willen, die bevorstehende Schlacht zu schlagen und mithilfe des Allmächtigen zu gewinnen, da wusste er, dass die Worte nicht vergeblich gewesen waren.
    Er straffte sich und richtete sich im Sattel auf, seine schmale Brust dehnte sich unter dem Kettenwerk. Einen Augenblick lang wünschte er sich, dass Sibylla ihn so sehen könnte, als den Anführer und König, der er stets hatte sein wollen.
    »Die Nachhut mag angegriffen werden, und die Heiden mögen unser Heer von Norden und Süden eingekesselt haben«, fuhr Guy im Anflug eines weiteren Hochgefühls fort, »doch den Weg nach Osten kann Saladin uns nicht verstellen. Wir werden mutig vorwärtsstürmen und ihn mit unserer Reiterei überrennen. Für Jerusalem!«
    Er zog sein Schwert. Mit metallischem Fauchen fuhr der Stahl aus der Scheide, gleißte im hellen Sonnenlicht.
    »Jerusalem!«
    Die Edlen taten es ihm gleich, und der Schlachtruf, den der König ausgegeben hatte, pflanzte sich durch die Reihen ihrer Ritter und Gefolgsleute fort bis hin zu den Templern und Turkopolieren.
    Guy stieß die Klinge in die Luft, wollte den Befehl zum Angriff geben – doch er blieb ihm im Halse stecken.
    Denn dort, wo sich die Vorhut des Heeres befinden sollte, hatte sich plötzlich eine dunkle Staubwolke erhoben, die finster und unheilvoll zum Himmel stieg. Gleichzeitig ließ etwas die Ebene von Hattin erzittern. Etwas, das sich anhörte wie …
    »Die Sarazenen kommen! Zu Tausenden!«
    Guy wusste nicht, woher der Ruf kam. Die Hochstimmung, die er eben noch verspürt hatte, zerplatzte wie eine Eiterblase, zurück blieben nur Schmerz und Furcht – und erneut die hässliche Gewissheit einer falschen Entscheidung.
    Es war zu spät, um den Ausfall zu wagen. Die vernichtende Wucht, die die gepanzerte Reiterei des christlichen Heeres zu entfesseln vermochte, würde nicht mehr zum Tragen kommen, wenn der Feind bereits so nah war. Offenbar, dachte Guy in wilder Panik, hatten sie die Vorhut umgangen oder überrannt, lagen ihre Kämpen erschlagen oder verwundet auf blutgetränkter Erde.
    Schon war der Feind in Sichtweite, Tausende von Kriegern, Lanzenreitern und berittenen Bogenschützen, die den gefiederten Tod in Scharen von ihren Sehnen schnellen ließen – und der schon im nächsten Moment die ersten Opfer unter Guys Rittern forderte.
    Der König hielt den Atem an.
    Der Feind hatte ihm die Entscheidung abgenommen und seine Taktik aufgezwungen, im Gelände, das er nicht kannte, inmitten glühender Mittagshitze. Und alles, was er, Guy de Lusignan, tun konnte, war, diesen toten Flecken Erde mit aller Macht und bis zum letzten Atemzug zu behaupten.
    Die Reihen der Edlen schlossen sich, einstige Rivalen standen Seite an Seite, während sie den gemeinsamen Feind erwarteten. Und jeder von ihnen ahnte, dass dies das Ende war.

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22
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    »O Gottgleicher, vollführe, was dir befohlen, zaudere nicht, und wie es dir verkündet, wird alles eintreffen.«
    Brief des Johannes Presbyter, 313 – 314
    Die Schlacht war entbrannt.
    Selbst über seinen Tod hinaus wirkten Mercadiers Verrat und Habgier fort – und entfalteten nun erst ihre ganze

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