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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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vergeben – sowohl die vergangenen als auch jene, die wir noch begehen werden.«
    Kathan bedachte seinen Mitbruder mit einem langen und durchdringenden Blick. »Das war die letzte Bluttat, die du vor meinen Augen begangen hast. Hast du verstanden?«
    Gaumardas starrte ihn an wie ein in die Enge getriebenes Tier. Seine spitze Nase bebte, die Augen zuckten unruhig in ihren Höhlen. Einen Moment lang schien er zu überlegen, ob er widersprechen sollte, entschied sich dann aber dagegen. »Wie du willst, Bruder Kathan«, säuselte er in spöttischer Ergebenheit und kicherte leise. »Ich fürchte nur, du hast auch nach all den Jahren noch nicht begriffen, was wir sind – nämlich Krieger des Herrn, Kathan. Es ist ohne Belang, was wir auf Erden noch tun – unser Platz im Himmelreich ist uns bereits sicher!«
    Kathan schaute zuerst ihn, dann Mercadier und schließlich den Leichnam auf dem Boden an.
    »Ich hoffe, du behältst recht, Gaumardas«, knurrte er dann. »In unser aller Interesse.«

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7
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    »Unter den Heiden fließt durch eine gewisse Provinz ein Strom, der Ydonus geheißen; dem Paradiese entgleitend, breitet er seine Arme in mannigfaltigen Windungen durch die ganze Provinz.«
    Brief des Johannes Presbyter, 95 – 97
    Jerusalem
18. Januar 1187
    Der Königspalast von Jerusalem musste für jeden Besucher einen eindrucksvollen Anblick bieten; für Rowan, der nie etwas anderes gesehen hatte als karge Klösterhöfe und triste Arbeitsstätten, war es jedoch, als würde er eine neue, andere Welt betreten.
    Durch ein mit einem Fallgitter versehenes und von schwer bewaffneten Posten bewachtes Tor betraten sie den Innenhof, in dessen Mitte ein orientalischer, mit Mosaiksteinen besetzter Brunnen plätscherte. Durch eine Säulenhalle, die an heißen Tagen wohltuenden Schutz vor den sengenden Strahlen der Sonne bot, gelangten sie in den eigentlichen Palast. Der Sergeant, der sie am Tor in Empfang genommen hatte, führte sie über mehrere Treppen und durch einen von Wachen gesäumten Gang. Schließlich gelangten sie in einen Raum, in dem sich Abendland und Morgenland auf eigenartige Weise vereinten.
    Die hohen, von Bogen gekrönten und von Säulen geteilten Fenster waren fraglos auf fränkische Bauherren zurückzuführen; der bunt geflieste Boden jedoch, die reich verzierten, von der Decke hängenden Öllampen sowie die Wand- und Fensterbehänge aus Seide und Brokat zeugten dagegen von orientalischem Einfluss. Zudem war die Luft von Blütenduft geschwängert, und aus einem der angrenzenden Räume war leises Flötenspiel zu vernehmen, eine orientalische Weise, die sich sanft ins Ohr schmeichelte. Einmal mehr fiel Rowan auf, wie nahe sich Okzident und Orient in Jerusalem waren.
    Sie blieben nicht lange allein.
    Schon nach wenigen Augenblicken kehrte der Diener, der sie angemeldet hatte, zurück. In seiner Begleitung war eine Frau, die gänzlich anders aussah, als Rowan sie sich vorgestellt hatte. Hätte sich der alte Cuthbert in diesem Augenblick nicht tief verbeugt, hätte Rowan vermutlich geglaubt, eine Orientalin vor sich zu haben. Die Frau trug ein orangefarbenes Kleid aus schwerem Brokat, in ihr aschbraunes Haar waren Goldfäden geflochten, und ihr Antlitz war auffällig geschminkt.Erst auf den zweiten Blick wurde ihm klar, dass die stark geröteten Wangen und dunkel umrandeten Augen ein europäisches Gesicht betonten – und dass diese Frau, die nur um einige Jahre älter sein mochte als er selbst, keine andere als Sibylla war, die Königin von Jerusalem.
    »Rowan!«
    Erst Cuthberts geflüsterte Ermahnung machte ihm klar, dass er noch immer mit offenem Mund dastand, statt der Königin seine Ehrerbietung zu bezeugen. Rasch verneigte auch er sich und beugte das Knie. Auf den fliesenbesetzten Boden starrend, merkte er, wie sie sich näherte, hörte das Rauschen ihres Gewandes und roch den betörenden Blütenduft, der ihr wie ein Herold vorauseilte.
    »Bruder Cuthbert«, hörte er sie mit einer Stimme sagen, die härter und spröder war, als ihre Erscheinung vermuten ließ. »Ich danke Euch von Herzen, dass Ihr meinem Ruf gefolgt seid.«
    »Zu Euren Diensten, meine Königin«, entgegnete Cuthbert, während er sich wieder aufrichtete.
    »Fürwahr, Ihr habt Euch nicht verändert.«
    »Ihr schmeichelt einem alten Narren, Herrin.«
    »Und dieser junge Mann bei Euch ist …«
    »… Rowan of Lauder, Herrin, ein Laienbruder aus meiner Heimat.«
    »Rowan.«
    Als Rowan von der Königin angesprochen wurde, erhob auch er sich

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