Das verschollene Reich
hinzufügen zu müssen. »Es soll Euer Schaden nicht sein«, versicherte sie. »Ist Eure Mission von Erfolg gekrönt, so erwartet Euch reicher Lohn.«
»Ich bin nur ein einfacher Diener des Herrn, meine Königin«, gab der Mönch kopfschüttelnd zu bedenken. »Ich habe feierlich gelobt, nur das zu besitzen, was ich am Leibe trage.«
»Von solchem Lohn spreche ich nicht, sondern von Weisheit, von wissenschaftlicher Erkenntnis. Ist es nicht das, wonach Ihr strebt?«
»Meine Königin.« Cuthbert holte tief Luft und seufzte. »Gerne gebe ich zu, wie sehr mich Eure Einladung an den königlichen Hof erfreut hat. Endlich, so dachte ich, ginge die Zeit des selbst gewählten Exils zu Ende – aber nun sehe ich, dass dies ein Irrtum gewesen ist.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Ihr wisst, Herrin, worüber Euer Vater und ich uns unterhielten, damals, an jenem Tag, als er mich des Hofes verwies, andernfalls hättet Ihr mich wohl kaum gerufen, um mich mit dieser Mission zu betrauen. Doch ich kann Euch nichts anderes sagen, als ich auch ihm schon sagte, selbst auf die Gefahr hin, dass es mir erneut Euren Zorn und die Verbannung vom Königshof oder gar aus Eurem Reich eintragen wird: Jener Brief, den Euer Vater mir damals zu prüfen gab, mag echt sein oder nicht – in jedem Fall enthält er nicht genügend Informationen, um die Orte zu finden, von denen darin die Rede ist.«
»Mein Vater«, entgegnete Sibylla, »ersuchte Euch damals, jene heilende Quelle zu finden, von der in dem Brief die Rede ist, um meinen vom Aussatz befallenen Bruder zu heilen. Ich hingegen verlange nichts dergleichen. Ich möchte lediglich, dass Ihr jenes ferne Reich findet und in Kontakt zu seinem König tretet.«
Fernes Reich? König? Rowans Blicke pendelten verständnislos zwischen den beiden hin und her. Er hatte keine Ahnung, worüber Sibylla und Cuthbert eigentlich sprachen, nur eines war deutlich zu erkennen: dass sich das Blatt gewendet hatte und der alte Mönch in die Defensive geraten war.
»Und ich danke Euch für das Vertrauen, dass Ihr in mich zu setzen bereit seid«, versicherte Cuthbert, »aber ich kann nur wiederholen, was ich schon Eurem Vater sagte, nämlich dass die Länder jenseits des Orients ebenso wild wie groß sind und dass unsere Aussichten, jenes ferne Reich zu finden, äußerst gering sind – so es überhaupt existiert.«
Sibyllas Augen verengten sich. »Ihr zweifelt auch daran? Sagtet Ihr nicht einst, dass Ihr dem Inhalt des Briefes Glauben schenkt?«
»Ihr seid noch ein Kind gewesen damals, dennoch habt Ihr das Gespräch, das ich mit Eurem Vater führte, offenbar gut in Erinnerung behalten. Ich sagte damals, dass ich die Echtheit des Briefes nicht bestreiten könne, da ich nicht in der Lage sei, das Gegenteil zu beweisen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wenn Ihr mich allerdings nach meiner persönlichen Einschätzung fragt, so muss ich gestehen, dass ich Zweifel hege, ob sich uns der Allmächtige auf solche Weise offenbart. Wundertätige Quellen, sonderbare Fabeltiere und ein Fluss, der geradewegs dem Paradiese entspringt – weder als Mann des Glaubens noch der Wissenschaft kann ich derlei Dinge ohne Widerspruch hinnehmen.«
Rowan war froh, dass weder die Königin noch sein Meister auf ihn achteten, denn so wie er dastand, mit aufgerissenen Augen, den Mund vor Staunen aufgesperrt, musste er einen ziemlich dämlichen Anblick bieten. Fabeltiere? Wundertätige Quellen? Wovon bei allen Heiligen sprachen die beiden? Von was für einem Brief war allenthalben die Rede? Wer war dieser Presbyter Johannes, der all diese Wunder sein Eigen zu nennen schien, sofern er überhaupt existierte?
»Das verstehe ich«, räumte Sibylla ein. »Dennoch hatte ich gehofft, dass die Gelegenheit, die Wahrheit oder Unwahrheit dieses Briefes zu beweisen, den Gelehrten in Euch reizen würde.«
»Das tut sie durchaus«, versicherte Cuthbert, »jedoch sehe ich keinen Sinn darin, Euch und Eurem Gemahl falsche Hoffnung zu machen. Vor nunmehr zehn Jahren hat eine Gesandtschaft unter der Führung des päpstlichen Leibarztes Philippus Rom verlassen, um auf Geheiß Seiner Heiligkeit Papst Alexanders III. das Reich Johannis aufzusuchen und dem Presbyter eine Grußbotschaft zu überbringen – sie ist jedoch nie zurückgekehrt. Was dem päpstlichen Gesandten auf seiner Reise zugestoßen ist, wissen wir nicht, und wenn selbst ihm bei seiner Unternehmung kein Erfolg beschieden war, welche Aussichten sollte ein einfacher Ordensbruder wie
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