Das verschollene Reich
wieder. Sie war unmittelbar vor ihn getreten, sodass er sie jetzt aus nächster Nähe sah: ihre strahlend blauen Augen; ihre ebenmäßigen, von einer schmalen Nase geteilten Züge, den kleinen Mund und die keck hervortretende Kinnpartie; ihre schlanke Gestalt, die von dem nach persischer Art geschnittenen Kleid noch hervorgehoben wurde. Soweit Rowan es beurteilen konnte, war die Königin von Jerusalem eine Schönheit, wenn auch undurchschaubar und geheimnisvoll.
»Was für ein wohlgeratener Jüngling«, stellte sie anerkennend fest, während sie ihn mit unverhohlener Neugier musterte. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass Bruder Cuthbert dich unter seine Fittiche genommen hat. Er hat schon aus manchem ungeschliffenen Edelstein ein wahres Kleinod werden lassen – nicht zuletzt auch aus meinem Vater.«
Sie lachte hell, als sie die Verwirrung bemerkte, die ihre Worte in Rowans Gesicht hervorriefen. Der junge Mönch, der sich einmal mehr wie ein ausgemachter Trottel vorkam, spähte Hilfe suchend zu seinem Meister.
»Ihr schmeichelt mir erneut, Herrin«, sprang Cuthbert ihm prompt bei, »zumal ich Euer Lob nicht verdiene. Euer Vater bedurfte nicht meiner Unterweisung, um der zu werden, der er gewesen ist.«
»Eure Bescheidenheit ziert Euch noch immer, Bruder Cuthbert«, entgegnete Sibylla und nickte dem Mönch zu, »ebenso wie Eure Offenheit. Ihr habt Euch nicht verändert.«
»Ich danke Euch, meine Königin.«
Atemlos blickte Rowan auf seinen Meister, der erneut das Haupt beugte, jedoch in keiner Weise untertänig wirkte. Irgendetwas schien zwischen der Königin und dem alten Mönch zu stehen. Zwar hatte Rowan keine Ahnung, was genau das war, aber er sah zum ersten Mal, wie sich zwei Menschen unterschiedlichen Standes auf Augenhöhe unterhielten. Der Vergleich, der sich Rowan aufdrängte, war der eines alten Dachses, der mit einer Löwin verhandelte – Cuthbert steckte tatsächlich voller Überraschungen.
»Natürlich«, sagte Sibylla, »habe ich Euch nicht rufen lassen, um mit Euch über alte Zeiten zu plaudern – dafür, so fürchte ich, ist die Gegenwart zu ernst.«
»Was kann ich für Euch tun, meine Königin?«
»Das will ich Euch gerne sagen, Bruder Cuthbert. Jedoch muss ich zunächst wissen, ob meinem Haus und Namen nach wie vor Eure uneingeschränkte Loyalität gehört.«
»Meine uneingeschränkte Loyalität, Herrin«, bestätigte Cuthbert ohne Zögern, »sofern es nicht meiner Treue zu Gott und meinem Gelübde als Ordensmann entgegensteht.«
»Und wie steht es mit Eurem Adlaten?«
»Ich bürge für ihn«, sagte Cuthbert ohne Zögern, noch ehe Rowan auch nur zu einer Erwiderung ansetzen konnte. Womit er das Vertrauen verdient hatte, das sein neuer Meister ihm schenkte, entzog sich seiner Kenntnis.
»Nun gut.« Sibylla nickte den beiden Wachen zu, die am Eingang des Gemachs postiert waren, worauf sich die beiden zurückzogen und die Tür von außen schlossen. »Zu Lebzeiten meines Vaters«, erklärte sie, »war dies ein glücklicherer Ort. Der König konnte seinen Getreuen vertrauen, und die Wände hatten noch keine Ohren.«
»Was bedrückt Euch, Herrin?«, fragte Cuthbert.
»Ist es so offensichtlich, dass mich etwas bedrückt?« Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Züge.
»Wäre es anders, hättet Ihr wohl kaum nach mir geschickt.«
Sibylla nickte, und Rowan hatte nicht das Gefühl, dass die Königin von Jerusalem vor ihnen stand. Viel eher erweckte sie den Eindruck eines jungen Mädchens, was nicht zuletzt an der Gegenwart seines Meisters zu liegen schien.
»Was wisst Ihr über die Machtverhältnisse im Reich?«, fragte sie unvermittelt.
»Nicht sehr viel. Ihr müsst wissen, ich bin lange nicht in Jerusalem gewesen, Herrin. Aber ich habe mit Bedauern vom Tod Eures Sohnes Baldwin erfahren und für seine junge Seele gebetet.«
»Ich danke Euch für Eure Anteilnahme, Bruder Cuthbert«, entgegnete Sibylla, und Rowan hatte das Gefühl, es in ihren blauen Augen feucht blitzen zu sehen. »Die Zeiten sind für uns nach Vaters Tod nicht einfach gewesen. Zunächst folgte ihm mein Bruder Baldwin auf den Thron, doch der Aussatz, an dem er litt, schwächte ihn und zwang ihn dazu, seine Herrschaft in die Hände eines Regenten zu legen. Raymond, der Graf von Tripolis, führte die Reichsgeschäfte an seiner Stelle, allerdings nicht zum Wohl und zum Fortkommen des Reichs, sondern nur um seiner eigenen Interessen willen und in der Absicht, nach dem Tod meines Bruders selbst nach der Krone zu
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