Das verschollene Reich
Nacht entschwinden wollte. Zu seiner eigenen Überraschung bekam Rowan den Umhang zu fassen und zerrte daran. Der Eindringling wurde zurückgerissen, was Rowan einen Triumphschrei entlockte. Doch die Freude währte nur einen Moment.
Sich heftig wehrend, trat der Eindringling mit dem Stiefel zu – und traf Rowan mitten ins Gesicht. Der junge Mönch hörte seine Nase knacken und spürte stechenden Schmerz. Tränen schossen ihm in die Augen, er würgte an salzig schmeckendem Blut. Unwillkürlich ließ er seinen Kontrahenten los, der herumfuhr und durch das Fenster hechtete.
Einen Lidschlag lang verfinsterte seine dunkle Gestalt den Mond und die Sterne, dann verschwand er in der Tiefe. Mit einer halblauten Verwünschung hastete Rowan zum Fenster, beugte sich hinaus und sah, wie der Eindringling über den nur wenige Klafter tiefer verlaufenden Wehrgang setzte und mittels eines Seils, das um eine der Zinnen geschlungen war, über die Mauer entschwand.
»Verdammt!«
Frustriert hieb Rowan mit den Fäusten auf die steinerne Brüstung. Der Schmerz des Fußtritts hatte auch noch den letzten Rest von Schlaf vertrieben, und er wollte nur eines: dem Eindringling hinterher und ihn zur Rechenschaft ziehen. Schon setzte auch er zum Sprung aus dem Fenster an, als eine Hand ihn an der Schulter packte und zurückhielt.
»Halt ein, Bursche! Hast du den Verstand verloren?«
Rowan fuhr herum. Sein Herz schlug wie wild, das Blut rauschte in seinem Kopf. Cuthbert stand vor ihm, geweckt vom Lärm des Handgemenges.
»Aber Meister, er …«
»Ich weiß, ich habe ihn gesehen«, versicherte der alte Mönch. »Aber das ist kein Grund, sich beim Sprung aus dem Fenster alle Knochen zu brechen. Zudem wirst du ihn im Gewirr der Gassen niemals finden.«
»Dann … dann … lasst uns die Wache rufen!«, näselte Rowan, der erst jetzt das klebrige Rinnsal wahrnahm, das aus seiner Nase troff.
»Und einen nächtlichen Aufruhr verursachen? Jedermanns Aufmerksamkeit auf uns ziehen?« Cuthbert schüttelte den Kopf. »Darauf verzichte ich gerne. Außerdem – was sollen wir der Wache sagen? Wir wissen ja noch nicht einmal, was der Eindringling wollte. Unser Leben war es jedenfalls nicht, sonst würden wir jetzt bereits in Gottes ewiger Seligkeit weilen.«
Er wandte sich vom Fenster ab und entfachte die Öllampe über dem Tisch. In ihrem Schein schaute er sich im Zimmer um, während Rowan damit beschäftigt war, seine malträtierte Nase zu massieren. Gebrochen schien sie nicht zu sein, dennoch tat es höllisch weh.
»Seltsam«, meinte Cuthbert, mehr an sich selbst als an seinen Diener gewandt, »was mag dieser Kerl bei uns gesucht haben? Ein gewöhnlicher Dieb ist er wohl kaum gewesen, da hätte er sich seine Opfer in der Tat schlecht ausgesucht.«
»Vielleicht ist er nur zufällig bei uns gewesen«, überlegte Rowan. »Oder ich bin noch rechtzeitig dazugekommen, ehe er …«
»Oder aber er war auf das Einzige aus, das es bei uns zu holen gab«, fiel Cuthbert ihm energisch ins Wort, der das Rätsel gelöst zu haben schien.
»Nämlich?«, fragte Rowan.
»Die Feder«, entgegnete der alte Mönch, in die Schranktruhe deutend, die er geöffnet hatte.
»Die … die Feder des Phönix?«
»Die goldfarbene Feder«, schränkte Cuthbert erneut ein. »Ich hatte sie hier hineingelegt – und sie ist nicht mehr da.«
Rowan biss sich auf die Lippen. Er hatte das dumpfe Geräusch, das ihn geweckt hatte, also nicht bloß geträumt. Vermutlich war dem Dieb beim Schließen der Truhe der Deckel entglitten.
»Verdammt«, sagte er noch einmal.
»Ein lästerliches Maul wird uns nicht helfen, die Feder zurückzubekommen«, schalt Cuthbert ihn ungewohnt streng. »Hättest du Wache gehalten, statt zu schlafen, befände sich das Kleinod jetzt noch in unserem Besitz!«
»Verzeiht, Meister«, bat Rowan, »ich wusste nicht, dass ich Wache halten sollte. Ich dachte nicht, dass …«
»… dass jemand kommen und die Feder stehlen könnte?«
Rowan nickte betroffen.
»Ich auch nicht, Junge«, gab der alte Ordensmann zu, jetzt wieder sanftmütiger. Seufzend ging er zu seinem Stuhl und ließ sich darauf nieder. »Nicht du bist der Narr, sondern ich. Ich hätte ahnen müssen, dass man versuchen würde, uns die Feder zu entwenden.«
»Meint Ihr?« Rowan war noch immer damit beschäftigt, mit dem Ärmel seines Habits das Blut aufzunehmen, das ihm aus der Nase rann. »Warum?«
»Weil es die einzige Möglichkeit war, die Wahrheit oder Unwahrheit von Cassandras Worten zu
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