Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
ritt.

----
19
----

    »Als mein Herz erbittert war
und es mich stach in meinen Nieren,
da war ich dumm und ohne Einsicht,
war wie ein Tier vor dir.«
    Psalm 73, 21 – 22
    Nordfrankreich
27. November 1173
    Jäh schoss sie in die Höhe und riss die Augen auf.
    Ihr Herz schlug heftig, ihr Haar hing ihr in schweißnassen Strähnen in die Stirn. Im Augenblick des Erwachens hatte sie das Gefühl gehabt, dass es ihr eigener Schrei gewesen war, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, doch schon jetzt war sie sich nicht mehr ganz sicher.
    Sie hatte geträumt.
    Von den Wölfen, die sie einmal mehr verfolgt hatten.
    Noch immer sah sie ihre zähnestarrenden Mäuler vor sich und hörte ihr scheußliches Knurren. Sie war gelaufen, so schnell sie konnte, durch den Hohlweg und zurück ins Dorf. Doch ihr Zuhause hatte ihr keinen Schutz mehr geboten. Die Häuser standen in Flammen, unmenschliche Schreie lagen in der Luft. Auch sie hatte geschrien oder es zumindest versucht, und im nächsten Augenblick war sie erwacht – nicht, um wie so viele Male zuvor festzustellen, dass es nur ein Albtraum gewesen war. Sondern um zu begreifen, dass sich all dies wirklich ereignet hatte. Nur in einer Hinsicht war die Vision falsch gewesen: Nicht Wölfe hatten das Dorf aus dem Hinterhalt überfallen, sondern Menschen.
    Gehetzt sah sie sich um. Ihre Häscher hatten das Nachtlager in einer schmalen Senke aufgeschlagen. Planen aus Tierhaut waren zwischen den Bäumen gespannt worden, um Schutz vor dem Schneefall zu bieten, der am Abend eingesetzt hatte; nun überzog eine weiße Schicht den Waldboden und die Kronen der umliegenden Bäume.
    Die Nacht neigte sich dem Ende, aber die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt. Von dem Feuer, das in der Mitte des Lagerplatzes entzündet worden war, war nur schwelende Glut geblieben, in deren schwachem Schein sich das Mädchen umblickte.
    Nur zwei der Entführer waren im Lager: Jener, der auf den Namen Kathan hörte und ihr hin und wieder etwas zu essen gab, lag nicht weit von ihr und schien noch zu schlafen. Auf der anderen Seite des Feuers hatte der Ritter mit dem Namen Mercadier unter einer tief hängenden, inzwischen von Schnee bedeckten Plane sein Nachtlager bezogen und atmete so gleichmäßig wie geräuschvoll, was vermuten ließ, dass er ebenfalls schlief. Der Rothaarige, der, wie sie gehört hatte, die zweite Wache übernehmen sollte, fehlte. Vermutlich, dachte sie grimmig, war er einmal mehr damit beschäftigt, seine Notdurft zu verrichten.
    Der Gedanke kam so unvermittelt wie zuvor das Erwachen. Ganz plötzlich war er da, als hätte er sich durch einen verborgenen Zugang in ihr Bewusstsein geschlichen.
    Flucht!
    Ihr stockte der Atem.
    Eine Stimme erhob sich in ihrem Kopf, die energisch protestierte, die ihr sagte, dass sie bleiben und sich in ihr Schicksal ergeben, sich lieber der Gnade ihrer Häscher anvertrauen als ihr Heil in der Ungewissheit suchen sollte. Aber der schreckliche Traum, den sie gehabt hatte, war ihr noch zu gegenwärtig – und mit ihm auch die Furcht vor ihren Entführern.
    In einem jähen Entschluss schüttelte sie die Decke ab und versuchte sich aufzurichten, was infolge der Fesseln um ihre Fußgelenke alles andere als einfach war. Sie musste die Stricke loswerden, und das möglichst rasch. Die Knoten zu lösen kam nicht infrage – zum einen waren ihre Hände steif von der Kälte und ebenfalls gefesselt, sodass sie sie nicht richtig bewegen konnte; zum anderen waren die Stricke so festgezurrt, dass ihre Kräfte niemals ausgereicht hätten. Ihr Blick fiel auf das noch schwelende Feuer. Kurzerhand fischte sie einen Scheit aus der Glut und hielt ihn an den Hanf, der schon kurz darauf zu glimmen begann. Atemlos beobachtete sie, wie die Fasern des Stricks sich schwärzten. Rauch stieg auf, von dessen strengem Geruch ihr fast schlecht wurde, während sie gleichzeitig wie von Sinnen an den Fesseln zerrte – und endlich gaben sie nach.
    Hastig entfernte sie die Reste und sprang auf. In der Aufregung spürte sie weder die Kälte noch den Wind, der über die Senke strich, ebenso wenig wie sie die Nässe bemerkte, die durch ihr löchriges, schäbiges Schuhwerk drang.
    Fort, nur fort!
    Die ersten Schritte setzte sie noch vorsichtig aneinander. Ganz langsam zog sie sich aus der Senke zurück, rücklings, um ihre schlafenden Häscher im Auge zu behalten, und darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Der frisch gefallene Schnee machte es leicht, sich geräuschlos zu entfernen – dass sie

Weitere Kostenlose Bücher