Das verschollene Reich
den Untergang von Jerusalem!«
»Gerüchte«, spottete Kathan. »Nichts weiter.«
»Zugegeben«, räumte Mercadier ein. »Aber nehmen wir an, sie wären wahr. Gehen wir davon aus, dieses Kind hätte tatsächlich das Ende des Königreichs gesehen. Dann weiß es womöglich auch, wie dieses Ende verhindert werden kann. Weißt du, was das bedeutet, Bruder? Dass dieses Kind den Ausschlag geben könnte zwischen endgültigem Sieg und völliger Niederlage. Deshalb sollten wir es finden.«
»Glaubst du, dass er es wusste?«
»Was meinst du?«
»Als uns der Ordensmeister auf die Suche nach jener Seherin schickte«, erklärte Kathan, »wusste er da, dass es sich um ein kleines Mädchen handelte?«
»Was macht es für einen Unterschied?« Mercadier zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Viele unserer Waffenbrüder sind überzeugt, dass mit dem Untergang von Jerusalem auch das Jüngste Gericht anbrechen wird. Um dies zu verhindern, ist jedes Mittel recht.«
»Gaumardas würde zustimmen«, meinte Kathan bitter.
»Gaumardas ist verloren«, entgegnete Mercadier. »Äußerlich mag er noch am Leben sein, sein Geist hingegen ist schon vor langer Zeit im Kerker von Damietta gestorben. Du jedoch solltest deinen Verstand benutzen und nachdenken, statt dich von diesem Kind gefangen nehmen zu lassen.«
Kathan betrachtete einmal mehr das schlafende Mädchen. Dann wandte er sich wieder der Figur zu und schnitzte weiter. Er brachte einige Schnitte an und hielt die Klinge dabei so, dass die Späne direkt ins Feuer flogen. Sie verglühten, noch ehe sie den Grund der Feuerstelle erreichten.
»Der Grund, warum ich mit diesem Kind fühle«, erklärte er schließlich, »hat nichts mit dunkler Magie zu tun.«
»Natürlich nicht.« Mercadier nickte. »Bruder, ich kenne dich gut und lange genug, um zu wissen, weshalb du für das Kind sorgst und väterliche Gefühle hegst. Das Problem ist nur, dass das Kind es ebenfalls weiß – und das macht dich verwundbar.«
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23
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»Jedes Jahr wallfahrten wir mit Heeresmacht nach dem Leichnam des heiligen Propheten Daniel, der beim verödeten Babylon sich befindet, und alle sind wegen der Bestien und Schlangen […] bewaffnet.
Brief des Johannes Presbyter, 204 – 208
Palmyra
5. Februar 1187
Der Anblick war atemberaubend.
Rowan stand auf dem Hügel oberhalb ihres Lagers, eine Erhebung, die, von einigen Felsen abgesehen, nur aus Sand zu bestehen schien. Vor ihm erstreckte sich Palmyra – oder vielmehr das, was die Zeit und die Wüste davon übrig gelassen hatten.
Schon im alten Persien, lange bevor sich Rom zur Herrscherin über die Welt aufgeschwungen hatte, war die von Wüste und Bergen umgebene Stadt ein blühendes Zentrum des Handels gewesen. Der Grund dafür war jenes Element, das in der Wüste kostbarer war als jedes andere und bisweilen selbst den Wert des Goldes überwog: Wasser.
Eine Oase mit grünenden und blühenden Dattelhainen war die Lebensgrundlage Palmyras, das einst die wohlhabendste Stadt des Orients gewesen war – bis sie es gewagt hatte, sich gegen die mächtigen römischen Eroberer zu erheben. Von der Einnahme durch den römischen Kaiser Aurelianus erholte sie sich niemals wieder. Die unzähligen, von prunkvollen Palästen, prächtigen Tempeln und riesigen Markthallen übrig gebliebenen Säulen, die aus dem Wüstensand ragten und im späten Tageslicht lange, die Vergangenheit beschwörende Schatten warfen, gaben jedoch eindrucksvoll Zeugnis von der einstigen Macht und Größe der Stadt.
Kein Grün gab es dort mehr und kein Leben, die Wüste eroberte sich zurück, was ihr mühsam abgerungen worden war. Im fruchtbaren Kern der Oase jedoch war im Schatten einer von den Arabern errichteten Garnisonsfestung eine neue Siedlung entstanden. Zwar hatte sie bei Weitem nicht den Glanz vergangener Zeiten aufzuweisen, jedoch war auch sie ein belebtes Zentrum des Handels, in dem sich Karawanen aus allen Himmelsrichtungen trafen und es Märkte zum Austausch und zur Übernahme von Waren gab. Geschäftige Betriebsamkeit herrschte auf den Plätzen und in den Gassen, die sich zwischen den Koppeln und Zelten, den Herbergen und Karawansereien erstreckten, und sorgte dafür, dass Staub, Lärm und exotische Gerüche über der Oase lagen.
Bruder Cuthbert hatte einmal mehr darauf verzichtet, sich und seinen Leuten ein festes Dach über dem Kopf zu beschaffen. Noch immer befanden sie sich in Saladins unmittelbarem Machtbereich, und er hielt das Risiko, entdeckt und der Spionage
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