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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Händen.
    »Weil …« Einen Augenblick lang hielt er ihrem fragenden Blick stand und schien nach einer Antwort zu suchen. Dann schüttelte er wieder den Kopf. »Verdammt«, sagte er nur, wandte sich ab und entfernte sich.
    »Bitte nicht«, rief sie ihm verzweifelt nach. »Geh nicht fort!«
    Nach einigen Schritten blieb er stehen und schien innerlich zu ringen. Mit resignierendem Seufzen drehte er sich schließlich wieder zu ihr herum. »Es tut mir leid«, begann er, »ich …«
    Weiter kam er nicht.
    Eine drohende Gestalt wuchs hinter ihm empor und schlug unbarmherzig zu.
    Kathan stand wie von einem Blitzschlag getroffen. Sein Mund blieb offen, er verdrehte die Augen – und fiel um wie ein nasser Sack. Hinter ihm stand Gaumardas, den Ast, den er als Knüppel gebraucht hatte, noch in den Händen und über seine beiden hässlichen Münder grinsend.
    Entsetzt schrie das Mädchen auf.
    »Schrei nur«, forderte der Rothaarige sie auf, dessen Augen gefährlich glänzten, »hier ist niemand mehr, der dir helfen könnte. Nur ich bin noch hier, und ich werde tun, wozu meine Brüder bedauerlicherweise nicht in der Lage sind. Kathan hat mir das Leben gerettet in jener Schlucht – nun werde ich ihn retten. Dieser Narr ist nicht in der Lage, in dir das zu sehen, was du tatsächlich bist. Ich hingegen erkenne den Dämon, und ich werde ihn dir austreiben, wie ich es längst hätte tun sollen!«
    Damit sprang er vor, packte sie und riss sie zu sich in die Höhe. Sie wollte sich seinem Griff entwinden und wehrte sich nach Kräften, aber gegen seine Panzerung vermochten ihre kleinen Fäuste nichts auszurichten. Er lachte nur, während er ihre schäbigen Kleider herabriss und sich dann auf sie warf.
    »Kathan!«, schrie sie verzweifelt, während die blutunterlaufenen Augen des Wolfs auf sie starrten. »Bitte hilf mir!«
    Doch diesmal hörte er sie nicht.



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1
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    »Ist kein schädliches Gift, noch quakt ein schwatzender Frosch je. Kein Skorpion ist hier, noch schleicht unter Gräsern die Schlange. Auch können hier giftige Tiere weder weilen noch jemanden verletzen.«
    Brief des Johannes Presbyter, 91 – 94
    Handelsstation Abu Kemal
8. März 1187
    »Hilfe! Bitte helft mir …!«
    Rowan blieb reglos stehen.
    Inmitten der Gassen, die sich zwischen den Lagerhäusern erstreckten, war unmöglich auszumachen, woher der Ruf kam. Nur in einer Hinsicht war sich Rowan sicher – dass es Cassandra war, die um Hilfe rief.
    Seit sechs Tagen weilten sie in Abu Kemal und warteten darauf, dass die Karawane ihren Zug gen Bagdad fortsetzte. Und seit sechs Nächten wurde Cassandra von Träumen verfolgt, heftiger als je zuvor.
    Ob es an der Begegnung mit den Sklaven lag oder daran, dass sie nach Abu Kemal zurückgekehrt war, wusste Rowan nicht zu sagen; aber nie zuvor hatte sie so intensiv geträumt wie in den letzten Nächten. Nicht nur, dass sie im Schlaf schrie, und das mitunter so laut, dass es durch die lehmgemauerten Wände bis in die Kammer von Rowan und Pater Cuthbert zu hören war; fast jeden Morgen wusste sie auch von neuen Bildern und Eindrücken zu berichten, die Rowans Meister alle dokumentierte, nicht nur mit Worten, sondern mitunter auch in kleinen Zeichnungen, die er nach Cassandras Beschreibung anfertigte und die er dann mit Farids Schilderungen verglich sowie mit einigen Karten und Landschaftsbeschreibungen, die er bei sich hatte.
    Der Schrei, der Rowan diesmal aus dem Schlaf gerissen hatte, war jedoch nicht aus Cassandras Kammer gekommen, sondern von draußen. Ohne zu zögern war Rowan aufgesprungen, schnappte sich einen Stock und eilte aus dem Zimmer, besessen nur von dem einen Gedanken, ihr beizustehen.
    »Hilfe! Hilfe …!«
    Wieder erklang der Ruf, heiser und panisch. Atemlos rannte Rowan an den würfelförmigen, aus Schilf und Lehm errichteten Lagerhäusern vorbei. Flüchtig blickte er in jede Gasse, in der Hoffnung, Cassandra zu entdecken, aber alles, was er sah, waren kahle Mauern, eine wie die andere, von denen die Schreie widerhallten.
    »Hilfe …!«
    Verzweiflung hatte sich in Cassandras Stimme gemischt. Rowan beschleunigte seinen Schritt. Barfuß hetzte er bald in diese, bald in jene Richtung, den Hilfeschreien folgend, die ihn wie Irrlichter lockten, bis er unvermittelt auf einen kleinen freien Platz inmitten der Lagerhäuser trat – und sie eingeholt hatte.
    Es waren vier.
    Männer, die die derbe Kleidung der Kameltreiber trugen und Cassandra in ihrer Gewalt hatten. Drei von ihnen hielten sie am Boden,

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