Das verschollene Reich
einige Worte, die Cuthbert merklich aufhorchen ließen.
»Was sagt sie?«, wollte Rowan wissen.
»Dass sie erneut einen Traum gehabt hat«, erklärte sein Meister.
»Hat das nicht Zeit bis morgen früh?«, fragte Rowan. »Sie hat viel durchgemacht und ist erschöpft.«
»Ich weiß, Junge. Aber Träume sind wie Rauch, sie pflegen sich rasch zu verflüchtigen.« Er fügte einige Worte auf Arabisch hinzu, und Cassandra antwortete abermals.
»S hamâl sharq ?«, fragte er daraufhin mit hochgezogenen Brauen.
»Shamâl sharq« , entgegnete sie mit bewundernswert fester Stimme.
»Nordosten?«, wollte Rowan wissen. Er war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.
»Ganz recht.« Cuthbert nickte. »Cassandra sagt, sie hätte einen Berg gesehen, dessen Gipfel von Schnee bedeckt und gezackt wie eine Säge waren. Dem Stand der Sonne nach, die sie in ihrem Traum gesehen hat, liegt dieser Berg in nordöstlicher Richtung – und sie ist sicher, dass sich dort befindet, wonach wir suchen.«
»Das ist der Hinweis, auf den wir gewartet haben«, folgerte Rowan atemlos. »Jetzt endlich wissen wir, in welche Richtung wir uns zu wenden haben.«
»In der Tat«, stimmte Cuthbert zu, und es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen Rowan einen Ausdruck der Zufriedenheit auf den Zügen seines alten Meisters erblickte. »Und dies ist nicht das Einzige, was wir in dieser Nacht erfahren haben.«
»Wovon sprecht Ihr?«
»Zum einen, mein Junge«, erwiderte der Benediktiner, auf den blutigen Stock in Rowans Hand deutend, »ist mir offenbar geworden, dass du nicht zum Mönch erzogen worden bist.«
»Und zum anderen?«, wollte Rowan wissen.
»Willst du behaupten, es wäre dir nicht selbst aufgefallen?«, fragte Cuthbert dagegen und bedachte Cassandra mit einem Seitenblick. »Vorhin, als unsere Freundin um Hilfe gerufen hat, im Augenblick höchster Bedrängnis, hat sie das nicht auf Arabisch getan.«
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2
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»Was der Mensch Böses tut, lastet schwer auf ihm.«
Prediger 8,6
Lothringen
1. Dezember 1173
Sie spürte weder die Kälte noch den harsch gefrorenen Schnee, in dem sie mit zerfetzten Kleidern lag – nur den Schmerz, den spürte sie.
Auf jede nur erdenkliche Weise.
Schmerz in ihrem Gesicht, wo seine Faust sie getroffen hatte.
Schmerz in ihrem Kopf, wo das Blut in ihren Schläfen hämmerte.
Schmerz in ihrem rechten Arm, den sie nicht mehr bewegen konnte.
Schmerz in ihrer Kehle, weil sie so lange und so laut geschrien hatte, bis ihr die Stimme versagte.
Schmerz in ihrem ganzen Körper.
Schmerz in ihrer Seele, denn ihre Welt war vernichtet, ihr Glaube und die Hoffnung, dass vielleicht noch alles gut werden würde.
Wie leblos lag sie da, die Augen geschlossen, unfähig, sich zu bewegen, gefangen in Lethargie, in der Starre des Entsetzens. Die Zeit auf der Lichtung schien stillzustehen, der Wald ringsum war in Kälte und Dunkelheit versunken, obwohl es heller Tag war.
Vergeblich hatte sie versucht, Widerstand zu leisten – nun wehrte sich nur noch ihr Geist gegen das, was ihr widerfuhr, zog sich in ihr Innerstes zurück, wo sich der Strudel des Wahnsinns drehte und sie verschlingen wollte. Krampfhaft klammerte sie sich an das Einzige, was ihr geblieben war: ein kleines Holzpferd, das sie in ihrer zur Faust geballten Hand hielt und so fest presste, dass ein Bein abgebrochen war.
Sie hörte sein Keuchen.
Roch seinen heißen Atem.
Hörte seine Worte, ohne dass sie in ihrem Kopf einen Sinn ergaben.
Dann, irgendwann, schlug sie die Augen auf.
Was sie sah, waren nicht die blutunterlaufenen Augen des Wolfs.
Nicht das doppelte Grinsen ihres Peinigers.
Sondern sein Ohr.
Auf allen vieren kauerte er über ihr, keuchend und fluchend, und blickte an sich herab. Daraufhin verfiel er in wütendes Heulen, das das Mädchen an ein kleines Kind erinnerte und ihr neuen Mut gab, die vage Hoffnung, dass sie dies überleben konnte – wenn sie handelte.
Es war ein Impuls aus ihrem Innersten, aus dem Mahlstrom des Wahnsinns, der sich dort drehte. Sie dachte nicht lange nach, sondern stemmte sich mit aller verbliebener Kraft gegen den Griff, mit dem er sie am Boden hielt, warf den Kopf nach vorn, riss den Mund auf und biss in sein Ohr.
Gaumardas’ Wimmern ging in einen heiseren Schrei über. Er riss den Kopf empor, um sich zu befreien, doch ihre Kiefer hatten sich so in seinem Ohr verbissen, dass sie nicht nachgaben. Blut sickerte zwischen ihren Zähnen hervor, aber noch immer ließ sie nicht los. Gaumardas schrie noch
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