Das verschollene Reich
Pfad zu Gott finden, mein Sohn«, fuhr Cuthbert fort. »Manchmal verläuft er gerade, manchmal auf Umwegen. Ich weiß, dass du nicht an Zeichen glaubst, schon deshalb nicht, weil du dann deinen Widerstand aufgeben müsstest.«
»Welchen Widerstand?«
»Gegen das Leben als Ordensmann, das du nie wolltest. Gegen das Kloster, dessen Diener dich schlecht behandelt haben. Gegen die heilige Mutter Kirche, deren Barmherzigkeit du nie kennenlernen durftest – und gegen den Allmächtigen selbst.«
»Meister, ich …« Rowan setzte zu einer Erwiderung an, aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen. Er hätte lügen müssen, hätte er Cuthbert widersprochen. Sein Meister hatte in Worte gefasst, was er tatsächlich in seinem Innersten empfand.
»Keine Sorge, Sohn«, versicherte Cuthbert, »ich verurteile dich nicht deswegen. Auch ich habe schon mit dem Herrn gehadert – nur um festzustellen, dass er mir in jenen Tagen näher gewesen ist als an vielen anderen. Es ist nur bisweilen schwer, seine Gegenwart zu fühlen.«
»Das ist wahr«, gab Rowan zu.
»Und ebenso schwer ist es, seine Zeichen zu deuten, denn unser Wünschen und Sehnen steht uns dabei im Weg«, fuhr der alte Mönch gelassen fort, während sie unter schattenspendenden Palmen ritten. »Ich habe nie behauptet, dass ich nicht an Zeichen glaube. Ich sagte nur, dass der Mensch dazu neigt, sie nach seinen Zwecken zu deuten. Das Ergebnis dieser Bemühungen pflegt er dann Vorsehung zu nennen. In Wahrheit ist es jedoch nichts anderes als sein eigener Wille, den der Name des Allmächtigen durchsetzen helfen soll. Wer Gottes Plan erkennen will, der muss innere Ruhe bewahren, seine eigenen Ziele hintanstellen und tief in sich hineinhorchen, um die Stimme des Herrn zu vernehmen.«
Rowan schluckte. Wieder einmal musste er über seinen Meister den Kopf schütteln. Im einen Moment hörte er sich wie ein ausgemachter Häretiker an, nur um im nächsten deutlich zu machen, wie tief im Glauben verwurzelt er war. Diese Widersprüche machten es unmöglich, den alten Benediktiner einzuschätzen – und sie sorgten dafür, dass Rowan ihn mehr respektierte als jeden anderen Meister, den er zuvor gehabt hatte. Allmählich wurde ihm klar, was Cuthbert all die Tage lang getan hatte, in denen er wortlos auf seinem Reittier gesessen und seinen Gedanken nachgehangen hatte.
»Und?«, fragte er leise. »Habt Ihr die Stimme des Herrn gehört?«
Cuthbert nickte nachdenklich. »In der Tat hat es viele Zeichen gegeben, die uns zur Umkehr rieten. Der Diebstahl der Feder. Die Leichen der Ritter an jenem Baum. Der Überfall in Abu Kemal. Die Hinweise darauf, dass unsere geheimnisvolle Cassandra womöglich nicht die ist, für die sie sich ausgibt.«
»Auch ich habe darüber nachgedacht, Meister«, versicherte Rowan, »aber ich denke, dass Cassandra die Wahrheit sagt.«
»Warum denkst du das?«
»Weil alles andere keinen Sinn ergibt. Weshalb sollte sie die Unwahrheit sagen? Zu welchem Zweck sollte sie uns belügen?«
»Die Schliche des Bösen nicht zu verstehen bedeutet nicht, dass es das Böse nicht gibt«, wandte Bruder Cuthbert ein. »Wir wissen viel zu wenig über diese Frau. Woher kommt sie? Wer ist sie in Wirklichkeit? Und warum ist sie des Französischen mächtig, wenn sie sich doch nicht entsinnt, jemals in Europa gewesen zu sein? Hat sie tatsächlich diese Träume? Oder ist sie eine Hochstaplerin, die uns in die Irre führen will?«
»Ich glaube ihr«, erklärte Rowan kategorisch.
»Ich weiß«, entgegnete Cuthbert und streifte ihn mit einem vieldeutigen Blick. »Ich bezweifle nur, dass du es aus den richtigen Gründen tust.«
Rowan vermied es, seinem Meister in die Augen zu sehen. Ihm war klar, was er damit sagen wollte, und er konnte noch nicht einmal widersprechen.
»Im Brief des Priesterkönigs«, fuhr Bruder Cuthbert fort, »ist von einem Kraut die Rede, das in seinem Reich wachsen soll und jedweden Menschen, der es am Körper trägt, dazu zwingt, die Wahrheit zu sagen. Was würde ich darum geben, dieses Zauberkraut jetzt in meinem Besitz zu haben!«
»Ihr seid noch immer nicht überzeugt, dass das Reich Johannis existiert?«
»Nein«, gab Cuthbert zu, »und solange ich es nicht mit eigenen Augen sehe, wird mich auch niemand davon überzeugen. Die Wahrheit jedoch existiert, mein Junge, irgendwo dort jenseits der Flüsse. Und sie trachte ich nach wie vor zu finden, allen Warnungen zum Trotz. Farid!«, rief er laut nach ihrem Führer, der sogleich sein Reittier wendete
Weitere Kostenlose Bücher