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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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überbracht hatte, schritt er wie ein gefangenes Raubtier auf und ab. »Es gibt Neuigkeiten aus Jerusalem zu vermelden«, berichtete er.
    »Und es sind keine guten Nachrichten, wie ich annehme?«
    Raymond verharrte. »Woher wisst Ihr …?«
    »Nun«, entgegnete der von Saladin bestellte sadîq , »wären es gute Nachrichten, so hättet Ihr mich wohl kaum zu Euch bestellt.«
    Raymond nickte. Noch einmal ging er in der Kammer umher, dann ließ er sich in den samtgepolsterten Stuhl fallen, der eine Ecke einnahm.
    »Es hat eine Zusammenkunft gegeben«, erklärte er dann. »Der König hat den Adelsrat einberufen.«
    »Und Ihr habt keine Einladung erhalten?«
    »Wozu auch?« Raymond lachte freudlos auf. »Guy weiß, dass ich nicht gekommen wäre. Auch andere Edle aus dem Norden des Reiches, die mir treu verbunden sind, wurden nicht eingeladen. All jene jedoch, die bislang unentschieden waren, hat der König an seinen Hof berufen, um sich, wie es hieß, ihrer ungebrochenen Loyalität zu versichern.«
    »Und?«, erkundigte sich der Berater mit einem wissenden Lächeln. »Wie ist die Versammlung ausgegangen?«
    Raymond mahlte mit den Kieferknochen, als müsste er die Worte erst zerkauen, ehe er sie ausspuckte: »Alle haben ihren Treueschwur erneuert und ihre Loyalität zugesichert, selbst jene, die seinem und Sibyllas Herrschaftsanspruch bislang ablehnend gegenüberstanden.« Er faltete das Pergament in seiner Hand auseinander und überflog es abermals. »Alle scharen sie sich unter Guys Banner: Raynald von Sidon, der mächtige Balian von Ibelin, selbst Humphrey von Toron.«
    »Humphrey?« Der Berater hob die Brauen und ließ einmal mehr erkennen, wie gut er über die Verhältnisse in Jerusalem unterrichtet war. »Der Gemahl der engsten Verbündeten, die Ihr am Königshof habt?«
    Raymond nickte. »Lady Isabela hat mehrfach versucht, ihn umzustimmen, aber es ist ihr nicht gelungen. Sie sagt, dass der gesamte Adel von Furcht ergriffen sei.«
    »Von Furcht? Wovor?«
    Raymond bedachte den Gesandten mit einem warnenden Blick. »Tut das nicht, Mann«, knurrte er. »Spielt nicht mit mir. Ihr wisst ebenso gut wie ich, wovor sie sich fürchten.«
    »Saladins Macht ist gewachsen, das ist wahr«, stimmte der andere ohne Zögern zu. »Für jene, die in Frieden mit ihm leben wollen, stellt er jedoch keine Bedrohung dar.«
    »Und Jerusalem?«, fragte Raymond scharf. »Wollt Ihr bestreiten, dass Saladin Jerusalem will?«
    »Ihr könnt einem Herrscher nicht das Recht absprechen, sich zurückzuholen, was jahrhundertelang Eigentum seines Volkes war, Herr«, entgegnete der Berater ausweichend. »Aber Ihr könnt und müsst Euch überlegen, wo Euer Platz in diesem Konflikt ist.«
    »Worauf wollt Ihr hinaus?«
    »Das brauche ich Euch nicht zu sagen, Herr. Ihr wisst es längst, sonst wäre ich nicht hier. Man hat Euch nicht zu den Beratungen an den Königshof geladen und Euch aus dem Adelsrat ausgeschlossen, was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass man Euch nicht mehr als Verbündeten, sondern als Feind betrachtet. Was also wird geschehen, wenn es tatsächlich zum Krieg kommen sollte? Glaubt Ihr, dass Ihr Euch heraushalten könnt? Eure Besitzungen liegen auf halbem Wege zwischen Damaskus und Jerusalem. Kommt es zum Krieg, so werden sie der Schauplatz der Auseinandersetzung sein. Und spätestens dann müsst Ihr Euch entscheiden, auf wessen Seite Ihr steht.«
    »Ich bin ein Edler des Reiches!«, begehrte Raymond auf und hieb mit der Faust auf die geschnitzte Armlehne des Stuhls. »Meine Vorfahren kamen mit den ersten Streitern Christi ins Land und waren dem Königshaus stets treu verbunden. Erwartet Ihr, dass ich all das verrate?«
    »Die Frage ist nicht, was ich von Euch erwarte, Herr. Die Frage ist, was Ihr zu tun habt, um Euer Überleben und das Eurer Familie zu sichern. Und Ihr wisst das ganz genau, sonst hättet Ihr mich nicht zu Euch gerufen.«
    Raymond starrte brütend vor sich hin.
    Zu gerne hätte er widersprochen, aber das konnte er nicht. Denn schon in dem Augenblick, da er Isabelas Brief zu Ende gelesen hatte, war ihm klar geworden, dass jede Hoffnung, doch noch nach Jerusalem zurückzukehren und dort erneut zu Macht und Einfluss zu gelangen, erloschen war. Und dass er eine Entscheidung zu treffen hatte.
    Gegen sein Herz. Für die Vernunft.
    »Was wollt Ihr, dass ich tue, Herr?«, brach der Berater nach einer Weile das Schweigen. »Soll ich Fürst Saladin bestellen, dass Ihr seine Gesandtschaft empfangen und über ein Bündnis

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