Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Zentrum aus wie ein gewelltes Band den Berg hinaufwand, stand die große weiße Holzvilla der Buchhändlerin Jenny Brodal. Jenny lebte mit einer Frau zusammen, die Irma hieß, und die beiden gingen jeden Abend spazieren. Jenny war klein und zierlich und marschierte die lange Straße zum Zentrum hinunter. Irma war groß und breit und lag meistens ein paar Schritte hinter ihr. Simen begegnete den beiden Frauen oft, wenn er draußen mit dem Fahrrad unterwegs war. Irma sagte nie etwas, aber Jenny grüßte immer.
»Guten Tag, Simen«, sagte sie stets.
»Hallo«, sagte Simen und wusste nicht, ob er anhalten und richtig grüßen oder weiterradeln sollte – aber beide wären ohnehin schon weit weg, bis er sich entschieden hätte.
Irma war die Frau, deren Jenny sich erbarmt hatte. Simen wusste nicht, was erbarmen bedeutete, den Ausdruck hatte seine Mutter benutzt, als er fragte, was das für eine Frau sei, die zusammen mit Jenny Brodal in Mailund wohne.
In Wahrheit mied Simen Irma, so gut er konnte. Am schlimmsten war es, wenn Irma abends allein draußen herumlief. Simen erinnerte sich daran, wie er einmal auf der Straße auf sie zufuhr und sie seinen Lenker packte und ihn anfauchte. Es kamen zwar keine Flammen aus ihrem Mund, aber es hätte ihn nicht gewundert, wenn es so gewesen wäre. Sie war irgendwie voller Licht, das fiel ihm auf, weil es draußen so dunkel war. Ja, sie leuchtete, als hätte sie gerade einen Feuerschlucker verschluckt.
Er hatte keine Ahnung, warum sie das tat. Warum sie ihn anfauchte. Er hatte nichts Böses getan. Er hatte ihr nicht den Weg versperrt. Sie hatte ihn festgehalten.
Seine Mutter sagte, Irma habe vielleicht nur versucht, mit ihm zu scherzen, und sich dabei etwas ungeschickt angestellt. Irma sei nicht verkehrt, sagte die Mutter, und Simen solle seine Phantasie zügeln, solle sich nicht Geschichten über Menschen ausdenken, die er nicht kenne. Simen müsse einsehen, dass Irma ganz bestimmt ein guter, freundlicher Mensch war und dass sie Jenny Brodal liebte, die Irma aus allen erdenklichen unangenehmen Situationen befreit hatte (und die sich außerdem ihrer erbarmt hatte), aber weil Irma so groß war und nicht wie eine normale Frau aussah, war man versucht, ihr negative Eigenschaften anzudichten. Das alles sagte Simens Mutter, und das tat sie, weil sie stets an das Gute im Menschen glaubte. Aber in diesem Fall irrte seine Mutter. Die Hünin Irma hatte seinen Lenker gepackt und Simen angefaucht, und sie hatte im Dunkeln geleuchtet. Da war sich Simen ganz sicher.
Doch an jenem Abend im Juli begegnete er weder Jenny noch Irma auf der Straße. Zum Glück. Er wusste, warum. Jenny hatte Geburtstag, und ihr großer Garten war voller Menschen, schon von weitem hörte er die Stimmen und das Gelächter. Es war ein großes Fest, was Simen angesichts von Jennys Alter ein wenig merkwürdig fand. Sie war bestimmt über siebzig, vielleicht sogar über achtzig. Er war sich nicht sicher. Aber alt war sie. Bald würde sie sterben. Daran führte kein Weg vorbei. Man konnte sich nicht entziehen. Und Jenny war auch keine Frau, die sich den Dingen entzog. Sie marschierte zwar – aber dem Tod konnte man auch marschierend nicht entkommen. Der Tod hatte alle Macht. Mama würde sterben, Papa würde sterben. Und eines Tages würde auch Simen sterben. Darüber hatte er mit Mama gesprochen – sie gab ihm richtige Antworten. Papa wich eher aus. Warum sollte man ein großes Fest feiern, wenn man bald starb? Was gab es da zu feiern?
Simen fuhr die lange Straße hinauf, um im Gebüsch zu spionieren. Nebel lag über ihm und unter ihm, vor ihm und hinter ihm, und die Stimmen aus Jennys Garten schienen daraus zu entspringen. Der Nebel erschuf die Stimmen. Der Nebel erschuf das Gelächter. Der Nebel erschuf die Straße, die sich zum Haus hochwand, und all die hundert Kurven, und der Nebel erschuf die Menschen auf dem Fest, und nur Simen und sein Fahrrad waren real. Sie waren Fleisch und Blut und Knochen und Räder und Stahl und Kette. Simen und sein Fahrrad waren eins. Zumindest bis das Rad einen Stein rammte und Simen über den Lenker flog. Sein Schrei wurde erstickt, als er auf dem Boden landete. Eine Weile rührte er sich nicht, dann begann es wehzutun. Die Schürfwunden an Handflächen und Knien. Der Kies in den Wunden. Das Blut. Er krabbelte zum Straßenrand, lehnte sich an einen Baumstamm und weinte. Doch wie laut er auch weinte, Mama und Papa würden ihn nicht hören. Ihr Haus lag weit unten in der Straße, und
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