Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
damals schreiben konnte.
Jetzt, neun Jahre später, saß Jon am dritten Band, Band eins und zwei waren sehr gut gelaufen, erschienen 2000 und 2002, aber Band drei wollte ihm nicht gelingen, das Buch sollte seit Jahren fertig sein, aber ihm war ständig etwas dazwischengekommen, es hatte nicht geklappt, die Tage vergingen, und er brachte nichts zustande. Vielleicht war er depressiv.
Er besah sich seine Notizen zu Herman R. und schrieb: Die Geschichte eines Mannes, der eine Geschichte erzählen wollte. Weiter kam er nicht. Genau das versuchte er hinzukriegen: Wie schreibt man die Geschichte eines Lebens, was macht ein Leben aus, worin besteht das gelebte Leben, woraus bestehen wir, und wie beschreiben wir es? Auf einen gelben Post-it-Zettel an der Wand hatte er ein Zitat aus einem Charles-Olson-Gedicht gekritzelt:
Ein Amerikaner
ist eine Kombination von Zufällen
War das die Antwort? War das alles?
Er hatte Siri etwas von Charles Olson vorgelesen, als sie in Gloucester waren. Aber sie sagte, Charles Olson gehöre dem Universum der Gottlosen an, einem der vielen Universen, zu denen sie keinen Zugang fand. Die Steinhauerei des Vaters war auch so eines. Es war der Sommer, in dem sie keinen Schlaf fand, nur wenn er ihre Hand hielt und ihr Geschichten erzählte, konnte sie einschlafen. Sie lagen nebeneinander in der Dunkelheit, und er erzählte. Er wollte ihr etwas von der Ruhe zurückgeben, die sie unterwegs eingebüßt hatte; in der Nacht, in der Dunkelheit, inmitten der großen Stille zwischen ihnen wollte er ihr etwas geben, das sowohl ihm als auch ihr gehören konnte. Seine Stimme fand eine Tonlage, die sie nie zuvor gehabt hatte, und er lag neben ihr und nahm sich die Zeit, sich an alles zu erinnern, woran er sich nicht mehr zu erinnern glaubte, an die Einrichtung von Großmutters Wohnung, die anderen Hausbewohner in Frogner, die bunten Kleider der Mutter, im Detail beschrieben, jedes Gesicht auf den Klassenfotos, er schilderte ihr den Schulweg Meter für Meter und jedes einzelne Stück, das man in seiner Kindheit im Lebensmittelladen an der Ecke kaufen konnte, er erzählte und erzählte, Nacht für Nacht, mit derselben monotonen Stimme, von Büchern, die er vor langer Zeit gelesen hatte, von Geschichten, die ihm sein Vater erzählt hatte, als sie in jenem Sommer, in dem er zwölf wurde, in die Berge gingen, von den beiden Wellensittichen, die er in seinem Zimmer im Käfig hielt und die sich so heftig stritten, dass, solange sie lebten, buchstäblich die Federn flogen, er hielt Siris Hand und sagte, er glaube trotzdem, dass die beiden Vögel sich geliebt hatten, dennoch und allem zum Trotz, und er kam auf seine Reisen zu sprechen, detaillierte Schilderungen von Zugreisen kreuz und quer durch Europa, und von dort zu ihren gemeinsamen Reisen, er lag in der Dunkelheit und erinnerte sich an die seltsamsten Dinge, Brocken zur Geschichte der Fischerei in Gloucester, die er während ihres Aufenthaltes dort bereits gelesen hatte, von all jenen, die zu den großen Fischgründen hinausgefahren und im Nebel verschwunden waren; ihre Hände froren am Ruder fest, und der Nebel verschluckte sie ganz, mehrere Tausend Jungen, Männer, Söhne, Väter verschwanden, und ständig kamen neue hinzu, sie kamen aus Schweden, Norwegen und Dänemark, sie kamen aus Sizilien, sie kamen von den Kapverdischen Inseln und den Azoren, sie kamen aus Neufundland, sie kamen, um zu verschwinden, sie kamen, um festzufrieren, sie kamen, um sich im Nebel aufzulösen, und er lag neben ihr und hörte nicht auf zu reden, und manchmal schnarchte sie, und manchmal wimmerte sie, und manchmal gab sie vor zu schlafen, er konnte sich nie sicher sein, aber es war auch nicht so wichtig, er lag neben ihr, ergriffen von seinen Geschichten, ergriffen von Siris Nähe und Wärme, und er streichelte ihre Hand, bis er sich selbst in den Schlaf geredet hatte.
Und wenn Jon aufhörte zu erzählen, weil er vielleicht mitten in einem Wort eingeschlafen war, machte Siri weiter. Vielleicht hörte er zu, vielleicht auch nicht. Sie erzählte von Träumen, die sie als Kind gehabt hatte, von heutigen Träumen, von der endlosen Treppe im Haus ihrer Mutter in Mailund, die nie dieselbe Anzahl Stufen hatte, meistens aber neunundzwanzig, eine Stufe pro Buchstabe im norwegischen Alphabet, wobei sie manchmal mehr und manchmal weniger hatte. Sie erzählte von Filmen, die sie gesehen, von Büchern, die sie gelesen hatte, Büchern, die Jon nicht lesen wollte, vielleicht weil sie von Frauen
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