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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Äste in den Nachthimmel streckte. Im Leben nicht! Dieser Baum rief überhaupt keine Erinnerungen wach. Dieser Baum erinnerte an einen steinalten Mann, der dem Himmel mit Fäusten drohte und so zornig war, dass er sterben wollte. Das lag nicht nur daran, dass er seine Blätter verloren hatte. Dieser Baum war am Ende.
    Aber er sagte kein Wort zu den anderen. Sie waren seit Ewigkeiten in die falsche Richtung geradelt. Er war sich nahezu sicher, dass sie in die falsche Richtung geradelt waren und das hier nicht die richtige Stelle war. Doch wenn er sich irrte und Ole Kristian recht hatte und der Schatz tatsächlich unter diesem Baum lag, stellte sich die Frage, ob er das Diamantkreuz wieder in die blaue Schale im Bad legen sollte oder ob er es vielleicht lieber behalten und einen Kumpel bitten sollte, es mit ihm zu verkaufen. Mit siebzehntausend Kronen kam man weit. Er sah seine Mutter vor dem Ferienhaus, sie trug ein rotes Kleid und hatte lange dunkle Haare und dunkle Augen, und sie lächelte ihn an wie immer, wenn sie so tat, als hätte sie sich nicht mit Papa gestritten.
    Sie rammten die Spaten in die Erde.
    »Zum Glück hat es noch keinen Frost gegeben«, sagte Ole Kristian, »dann wäre es nicht mehr möglich …«
    »Das ist garantiert die richtige Stelle«, sagte Gunnar, »man sieht ja, dass hier jemand gegraben hat.«
    »Der Sinn des Ganzen war ja aber, dass wir ihn nicht mehr ausbuddeln«, warf Simen ein.
    »Für wen soll das der Sinn gewesen sein, verdammt noch mal?«, fragte Ole Kristian.
    »Der Schatz war doch deine Idee«, sagte Simen.
    »Könnt ihr vielleicht mal die Klappe halten und graben«, sagte Gunnar.
    Die Jungen gruben schweigend weiter. Es war mittlerweile stockfinster geworden, und sie wechselten sich beim Graben und beim Halten der Taschenlampe ab.
    Keiner von ihnen begriff, dass Mille vor ihnen lag, als sie atemlos und erschöpft den Strahl der Taschenlampe auf sie richteten. Das Grab erinnerte an ein Vogelnest, ein großes unterirdisches Vogelnest aus Zweigen und Knochen und Haut und Stroh und Gras und Stoff – und zuerst dachte Simen, der den kompletten Inhalt des Grabes noch nicht erfasst hatte, dass es sich bei dem, was er sah, genau darum handelte, die Überreste eines Riesenvogels, des einzigen seiner Art, schwarz und rauschend, vor der Welt verborgen, mächtig und allein mit seinen dunklen schweren Flügeln, hin und her, hin und her, durch unterirdische Tunnel, Gänge und Säle. Ein großer, stolzer, einsamer Nachtvogel, der am Ende abstürzte und nur wenige Spuren seiner Existenz hinterließ – und er wurde aus diesen Gedanken erst herausgerissen, als Gunnar, der die Taschenlampe hielt, einen Schrei ausstieß.
    »Igitt, das ist eine Leiche.«
    Gunnar war grün im Gesicht, und das lag nicht allein am gespenstischen Licht der Taschenlampe.
    Ole Kristian sagte: »Seht mal, die Haare, an dem Schädel wachsen Haare, das ist kein Gras, das sind Haare.«
    Dann musste er sich übergeben.
    Milles Verschwinden lag jetzt zwei Jahre zurück. Simen war damals neun gewesen, und schon zu der Zeit waren er und sein Fahrrad eins, so sah er sich zumindest in jenem Sommer, als einen Jungen auf Rädern, als ein Fahrrad mit Körper, Herz und Zunge, und hätte er gedurft, hätte er das Fahrrad mit ins Bett genommen, wenn er am Abend widerstrebend schlafen ging. Von frühmorgens an sauste, schlitterte und rutschte er über die schmalen Kieswege bei der weißen Kirche oder ließ vorne bei den Holzstegen neben dem Fähranleger an der langen Mole das Fahrrad hochsteigen, und dann glänzte der Fahrradlenker in der Sonne, und ihm stieg der beißende Geruch von Garnelenschalen und Fischabfällen in die Nase, von den beiden Fischern, die unbeirrt dort ausharrten.
    Am Abend, an dem sie verschwand, dem fünfzehnten Juli 2008, hatte es leicht geregnet, der Nebel hatte ihn eingehüllt, und die Straßen waren schwarz und feucht gewesen, als könnten sie sich jederzeit auftun und ihn verschlucken. Simen hatte von seinen Eltern die Erlaubnis, allein draußen Rad zu fahren – solange er in der Nähe des Ferienhauses blieb. Er fror, wollte aber nicht nach Hause. Seine Mutter und sein Vater stritten sich und konnten nicht aufhören, auch wenn er schrie: IHR SOLLT EUCH NICHT MEHR STREITEN!
    An der höchsten Stelle der Straße, die Svingen hieß – die Kurve – (die nach Ansicht von Simens Vater jedoch Svingene – die Kurven – heißen müsste, es sind schließlich hundert Kurven, Simen, nicht nur eine!) und sich vom

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