Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
die Stimmen der Geburtstagsfeier hier oben übertönten alles, und er war ganz allein, und es tat überall weh, vor allem an den Knien, das Fahrrad war ganz sicher hinüber, und er hatte sich die Hände aufgerissen bei dem Versuch, sich beim Fallen abzustützen. Den Kopf zu schützen. Das sollte man tun, wenn man vom Fahrrad fiel. Eigentlich sollte man einen Fahrradhelm tragen, und Mama wurde bestimmt wütend, weil er keinen aufhatte, und er würde künftig am Abend nicht mehr allein Rad fahren dürfen. Das Fahrrad lag immer noch mitten auf der Straße. Seltsam verdreht. Simen begann noch lauter zu weinen. In dem Moment kam sie . Das Mädchen in dem roten Kleid mit den langen dunklen Haaren. Sie hatte ein Tuch um die Schultern und eine Blume im Haar. Sie war das allerschönste Mädchen, das Simen je gesehen hatte – und der Nebel schien ihr nichts anhaben zu können. Als wiche er vor dem, was schöner war als er, zurück. Simen weinte weiter, auch wenn etwas in ihm sagte: Wenn sich dir so etwas Schönes wie dieses Mädchen nähert, solltest du nicht im Graben sitzen und wie ein kleines Kind heulen. Andererseits: Hätte er nicht im Graben gesessen und geweint, wäre das Mädchen niemals stehen geblieben, wäre niemals vor ihm in die Hocke gegangen, hätte nicht den Arm um ihn gelegt und geflüstert: Bist du vom Fahrrad gefallen? Hast du dir wehgetan? Darf ich mal sehen? Sie hätte ihm niemals auf die Beine geholfen, ihn gefragt, wie er heißt, und das rote Tuch genommen, um ihm den Schmutz und die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Sie hätte sich niemals über das Fahrrad gebeugt und den Schaden begutachtet. ( Es ist nicht kaputt , sagte sie und stellte es wieder auf, siehst du, Simen, es ist nicht kaputt. ) Und sie hätte ihn niemals den weiten Weg von Jennys Haus zu seinem eigenen, dem zweiten auf der linken Seite, begleitet – eine Hand in seiner, die andere auf dem Lenker. Ich heiße Mille , sagte sie, als sie am Ziel ankamen.
Sie lehnte sein Fahrrad an den Zaun, sah ihn an und lächelte. Dann beugte sie sich über ihn und küsste ihn auf den Kopf.
Ich heiße Mille, und du heißt Simen, und jetzt musst du nicht mehr weinen.
Dann drehte sie sich um und ging.
II
Charles Olson hatte keinen Hund
J on Dreyer hatte sie alle zum Narren gehalten. Es war der Sommer des Jahres 2008, und er versuchte zu schreiben. Stattdessen betrachtete er Mille.
Das Zimmer, in dem er saß, befand sich im Dachgeschoss von Jenny Brodals baufälliger weißer Holzvilla Mailund, in der die Familie ihre Sommer verbrachte. Es war klein und hell und staubig mit Blick auf die Blumenwiesen und den Wald. Die Frau, mit der er zusammenlebte, die mit dem schiefen Rücken (ein kleiner Knick in der Taille nur), hatte in der alten Bäckerei ein Restaurant eröffnet, nicht sehr groß, mit Platz für zwanzig Gäste. Siri hieß sie. Vierzig Jahre. Tochter der Buchhändlerin Jenny Brodal und des Schweden Bo Anders Wallin, ehemals Inhaber der Steinhauerei Wallin AG in Slite auf Gotland, seit langem verstorben. Die Kinder von Siri und Jon: Alma, zwölf, und Liv, fünf.
Siri hatte das Restaurant Gloucester MA genannt, nach dem Fischerstädtchen in Massachusetts, in dem sie und Jon und Alma ein paar Monate verbracht hatten, als Jon den ersten Band seiner Trilogie zu Ende schrieb. Er hatte von einem entfernten und freundlichen amerikanischen Verwandten das Angebot erhalten, dessen großes Haus in Gloucester zu mieten. Die Miete war rein symbolischer Natur gewesen. Dort sollten sie gut drei Monate wohnen, von Juni bis September. Der Verwandte war froh, dass jemand das Haus hütete, während er sich selbst auf einer längeren Reise in Südamerika befand. Das ist ein Zeichen, dachte Jon damals, daran konnte er sich gut erinnern. Dass er das Buch in derselben Stadt zu Ende schreiben durfte, die der Dichter Charles Olson mit seinem Werk unsterblich gemacht hatte.
Es war im Sommer 1999, vier Jahre vor Livs Geburt. Alma war damals drei. Siri wollte, dass sie zusammen nach Gloucester fuhren, und erklärte sich bereit, ihr Restaurant in Oslo dem mehr als kompetenten Geschäftsführer Kajsa Tinnberg und dem Küchenchef Pål Pepper Olsen zu überlassen – ein junger und begabter Koch, der Horror, wenn man in der Küche mit ihm zusammenarbeiten musste (sensibler Perfektionist, beliebt und manisch, seinen Spitznamen Pepper hatte er nach einem fast manisch zu nennenden Manöver mit der Pfeffermühle erhalten), aber mit großem Respekt für Tinnberg.
Ach, wie er
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