Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Diamanten. Sie hatte es vor zweieinhalb Jahren von Simens Vater zu Weihnachten bekommen. Simen selbst war beim Kauf im Juweliergeschäft dabei gewesen, und er war fast ohnmächtig geworden, als er mitbekam, wie viele tausend Kronen es kostete. Die Idee dahinter war, dass das Kreuz auch zu einem kleinen Teil von ihm kommen und Mama sich mächtig freuen sollte. Aber er wusste nicht, ob die Rechnung aufgegangen war, so viele tausend Kronen auszugeben, damit Mama sich freute. Mama war nach Weihnachten dieselbe wie vorher. So viele Tausender für so einen kleinen Anhänger. Simen hatte schon überlegt, Papa zu fragen, ob es die Sache wert gewesen sei. Aber er ließ es bleiben. Und jetzt hatte er eine neue Idee.
Jeden Abend, wenn Mama zu Bett ging, nahm sie die Kette mit dem Anhänger ab und legte sie in eine blaue Schale im Bad. Er brauchte bloß zu warten, bis alle schliefen – es war kinderleicht. Niemand würde ihn verdächtigen. Simen war keiner von denen, die Sachen stahlen. Mama würde traurig sein, sie würde das ganze Haus auf den Kopf stellen, um den Anhänger zu finden, aber niemals würde sie ihn verdächtigen.
Gunnar und Ole Kristian sahen sich zuerst gegenseitig an, dann Simen.
»Wie viel hat er genau gekostet?«, fragte Ole Kristian.
»Viele Tausender. Siebzehn vielleicht.«
»Das kann nicht sein«, sagte Ole Kristian.
»Wenn es echte Diamanten sind«, sagte Gunnar, »kann es schon sein.«
Ole Kristian dachte nach.
»Okay«, sagte er und sah Simen mit durchdringendem Blick an, »dann steuerst du den Anhänger bei!«
Am nächsten Abend hatten sie den ganzen Wald abgesucht, waren unter leuchtenden Baumkronen über kleine, verschlungene Waldwege um die Wette geradelt, um die perfekte Stelle für die Kanne zu finden. Auch an dem grünen Waldsee kamen sie vorbei, in dem vor vielen, vielen Jahren zwei kleine Kinder ertrunken waren. Alma, das Nachbarmädchen von Mailund, hatte Simen von den Ertrunkenen im Wald erzählt. Alma war ein paar Jahre älter als Simen und hatte hin und wieder Geld von seiner Mutter erhalten, damit sie ein paar Stunden auf ihn aufpasste. Die Zeiten waren jetzt vorbei. Heute passte er auf sich selbst auf. Das war früher gewesen. Als er noch klein war. Fünf, sechs, sieben, acht Jahre. Jetzt war er elf. Wenn Simen erwachsen wäre und Kinder hätte, würde er niemals, niemals im Leben Geld dafür bezahlen, dass jemand wie Alma auf sie aufpasste. Alma würde er seine Kinder ohnehin nicht überlassen, nicht einmal, wenn es kostenlos wäre. Sie war komisch und dunkeläugig und erzählte Geschichten, manche wahr, manche erlogen, und man konnte sich nie sicher sein, um welche Art Geschichte es sich gerade handelte. Die Geschichte von den Kindern, die in dem grünen See ertrunken waren, schien zu stimmen. Der Junge war ertrunken, während das Mädchen dabeistand und zusah, daraufhin war die Mutter der Kinder so außer sich gewesen, dass sie auch das Mädchen ertränkt hatte.
»Sie hat ihren Sohn bestimmt mehr geliebt als ihre Tochter«, sagte Alma.
Alma und Simen hatten im Gras gesessen und auf das sommerlich warme Wasser geschaut, beide hatten ein Stück Apfelkuchen und einen Plastikbecher mit rotem Saft in der Hand gehabt. Almas Mutter hatte ihnen ein Picknick mitgegeben, aber Alma mochte keinen roten Saft und goss ihn in den See. Almas Mutter, die Siri hieß, strich ihm gern über den Kopf und sagte: Hallo, Simen, wie geht’s dir denn heute?
Alma sagte: »Der kleine Junge ist ins Wasser gefallen und ertrunken, während seine Schwester dabeistand und zusah, und als das Mädchen ohne den kleinen Bruder nach Hause kam, war die Mutter so außer sich, dass sie nicht mehr ein noch aus wusste. Sie weinte und weinte und weinte, und niemand konnte sich im Haus aufhalten, weil sie so viel weinte. Das Mädchen hielt sich die Ohren zu und weinte auch. Aber die Mutter interessierte das nicht. Oder es interessierte sie vielleicht, aber sie hörte es nicht. Und dann eines Abends wurde die Mutter ganz still. Auch das Mädchen wurde ganz still.«
»Was passierte dann«, fragte Simen, »wurde die Mutter wieder fröhlich und hörte auf zu weinen?«
Alma dachte nach.
»Nein, das nicht«, sagte sie, »die Mutter nahm das Mädchen mit in das große Doppelbett und las und sang ihm vor und kitzelte es im Nacken und zerzauste ihm die Haare und sagte: Ich hab dich so lieb, kleine … kleine … «
Alma suchte nach Worten.
»… kleine Singdrossel«, schlug Simen vor, denn so nannte ihn seine Mutter
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