Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
als darüber. Er konnte nicht erklären, warum, er wusste nur, dass es so war. Doch weder Gunnar noch Ole Kristian verstanden, was Simen sagen wollte. Wenn sie ehrlich waren, fanden sie Simens Betrachtungen über die Erde völlig hirnrissig, beide wollten einfach den Inhalt des Schatzes zurückhaben, ihren Beitrag zum Schatz, ihnen war der Schatz als Schatz vollkommen egal, und schließlich sagte Simen, das sei für ihn in Ordnung, es sei ihm egal; warum zogen sie nicht sofort los und gruben den ganzen Mist wieder aus.
Die Geschichte von Simen und dem Schatz begann ein paar Monate zuvor, im August, als Gunnar, der Älteste der drei Jungen, vorschlug, sie sollten ihr Blut vermischen. Der Sommer näherte sich dem Ende, der Abend war warm und rot, und alles blühte besonders üppig, wie immer, wenn es bald vorbei war. Es würde nicht mehr lange dauern, dann müssten sie Abschied nehmen und nach Hause zurückkehren, dorthin, wo sie den Rest des Jahres verbringen würden, in den Herbst, in die Schule, in den Fußballverein und zu den anderen Kameraden.
Gunnar hatte sich einen Ruck gegeben und gesagt: »Das Vermischen von Blut ist ein Symbol ewiger Freundschaft.«
Die beiden anderen wanden sich, die Vorstellung, sich die Handfläche mit der Scherbe einer kaputten Limonadenflasche aufzuritzen, war wenig verlockend, es würde unglaublich wehtun, so etwas wollte man sich selbst nicht antun, nicht einmal aus Gründen ewiger Freundschaft, und auch wenn man hauptsächlich Fußball spielte, wo die Beine zum Einsatz kamen, brauchte man doch auch die Hände, brauchte sie für verschiedene Dinge, ohne blutige Kratzer und Wunden, aber wie sollte man Gunnar das erklären, ohne als feige und kindisch zu gelten und ohne all das Gute kaputtzumachen.
Sie saßen vor ihrer Geheimhütte im Wald, die sie im letzten Jahr gebaut hatten. Sie hatten ein Lagerfeuer gemacht und Würstchen gegrillt, Chips gegessen und Cola getrunken, sie waren Liverpool-Fans, alle drei, die Unterhaltung lief also wie von selbst, sie hatten auch gesungen, denn hier konnte niemand sie hören, man brauchte sich vor niemandem zu blamieren, Walk on, walk on, with hope in your heart , und Simen dachte, wenn man dieses Lied singt, hat man das Gefühl, dass das Leben wirklich begonnen hat. Doch dann hatte Gunnar angefangen, und das war typisch Gunnar, davon zu reden, dass sie noch lange keine echten Freunde waren, nur weil sie jeden Sommer miteinander verbrachten. Echte Freunde, die miteinander durch dick und dünn gingen. Gunnar kannte einen Typen, der jahrelang zu Liverpool gehalten hatte, und dann hatte er plötzlich angefangen, zu Manchester United zu halten, nur weil sein neuer Nachbar zu Manchester United hielt. Und was macht man mit so einem Kerl? Ist das ein echter Freund? Und auf einmal schlug Gunnar den Bogen zu Blut und Schmerz und echter Freundschaft und anderen Dingen, über die er in diesem Sommer offensichtlich viel nachgedacht hatte und die in den Vorschlag mündeten, Blutsbrüder zu werden. Er hatte alles vorbereitet, sich für die ganze Prozedur gewappnet, und auch das war typisch Gunnar. Die Glasscherben waren fein säuberlich in Alufolie verpackt, die Flasche hatte er zu Hause im Garten zerbrochen, dann hatte er die Scherben mit Spüli gereinigt, es sei nämlich so, sagte Gunnar, wenn man sich mit schmutzigen Glasscherben in die Hand schnitt, konnte man eine Blutvergiftung bekommen und sterben, und er legte das verbeulte Päckchen zwischen sie und wickelte das Alupapier vorsichtig auseinander, als befänden sich Diamanten in dem Päckchen oder Skorpione. In dem Moment kam Ole Kristian, der von ihnen der Gewiefteste war, auf die Idee, stattdessen einen Schatz zu vergraben – als Symbol für ewige und echte und richtige Freundschaft. Sommers wie winters. Durch dick und dünn. Und alle drei mussten einen Gegenstand beisteuern, und dieser Gegenstand musste wertvoll sein. Ein Schatz anstelle von vermischtem Blut. Das war die Abmachung.
Im Gartenschuppen von Ole Kristians Eltern stand eine alte hellblaue Blechkanne mit Deckel, die seine Mutter vor Jahren gebraucht gekauft hatte. Die Kanne war zerbeult, übersät mit sonnengebleichten, handgemalten Bildern von Kühen und Mägden, und auf einer Seite der Kanne stand auf Englisch: MILK – nature’s most nearly perfect food . Ole Kristians Vater war fast den ganzen Tag über sauer gewesen, weil die Mutter für so etwas Bescheuertes wie eine alte Milchkanne nahezu vierhundert Kronen ausgegeben hatte.
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