Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
bin müde und schaue auf die Bewegung um mich herum. Sechs Erwachsene und zwei Kinder. Wir teilen das Geld, die Hausarbeit und die Verantwortung. Jeden Tag steht ein anderer mit den Kindern auf, macht ihnen das Frühstück, bringt sie in den Kinderladen, holt sie nachmittags ab, kauft ein, kocht, bringt sie ins Bett, liest ihnen etwas vor und bleibt zu Hause. Abends essen wir alle zusammen. Was wir ausgeben, wird in ein Heft geschrieben. Was jeder einbringt, ist unterschiedlich. Es setzt sich aus Stipendien zusammen, Einkünften durch Taxifahren, Übersetzungen und Sprachunterricht. Alles wird in eine Kasse gelegt. Jeder nimmt sich die gleiche Summe als Taschengeld. Unser Leben ist billig und nicht von Geldsorgen belastet. Wir haben, was wir brauchen, und auch das, was wir gerne hätten. In manchen Augenblicken, wenn mein Kind vorbeirennt und ich auf dem Bett liege und warte, dass die Hepatitis ausheilt, fühle ich mich aufgehoben − ein Zustand vollkommener Geborgenheit. Die Wohnung an den Bahngleisen ist eine bereits so weit zurückliegende Erinnerung, dass ich mir das Leben als kleine Familie schon nicht mehr vorstellen kann. Von meinem Bett aus sehe ich die wenigen Lieblingsgegenstände, die ich von dort mitgenommenhabe. Das goldene Sofa, eine alte Porzellanlampe, deren Schirm von drei Tänzerinnen getragen wird, einen Jugendstilsessel, meine Bücher, meine Kleider, meine Nähmaschine und einen großen Spiegel.
Philip S. hat in seinem Leben noch kein Möbelstück angeschafft, keinen Stuhl, keinen Teller, keine Tasse. Seine Schreibmaschine hat er auf eine Tischplatte gestellt, sein schwarzer Mantel, sein Anzug, seine Hemden, die Fliegerjacke, die Khakihose und die für die Demonstration am Tegeler Weg angeschaffte Militärjacke hängen an einer Kleiderstange. Er hat geplant, organisiert, gesägt, geschraubt, gezimmert und gestrichen, als wolle er eine Existenz aufbauen. Aber er hat nur Räume vorbereitet, in denen er sich aufhalten kann. Er richtet sich nicht ein. Er liegt neben mir in dem großen Bett, das er gebaut hat. Er schmiegt sich an mich, als wären wir eine Person. Er dreht sich um, wenn ich mich umdrehe. Wenn ich in der Nacht aufstehe, bleibt sein Arm an der gleichen Stelle liegen, und ich lege mich wieder hinein. Er wohnt an dem Platz an meiner Seite. Nirgendwo sonst in den beiden weiträumigen Etagen.
Mehr als ein Jahr nach dem Rauswurf hat das Gericht entschieden, dass die achtzehn Studenten wieder an der Akademie studieren können. Die Direktoren aber verweigern den Aufwieglern die Rückkehr. Als Entschädigung bieten sie ihnen die Summe an, die jedem für einen Abschlussfilm zugestanden hätte. Manche verbrauchen das Geld fürs Leben, andere gehen ein Jahr auf Reisen, nach Indien oder sonst wohin.
Philip S. kauft von dem Geld eine Videoanlage. Auf der Messe in Hannover tauchen die ersten halbprofessionellen magnetischen Aufzeichnungsgeräte auf. Wir stehenfasziniert vor einer kleinen Kamera und sehen uns selbst auf einem Bildschirm. Der Film sieht wie ein breites Tonband aus und ist beliebig überspielbar. Mit der neuen elektronischen Technik kann man, ohne Zeitverlust durch das Kopierwerk, Filme herstellen und auf einem Monitor wiedergeben. Im Ford-Transit-Bus reisen wir in eine westdeutsche Kleinstadt, fahren durch Neubausiedlungen mit Panoramascheiben, wo riesige Farbfernseher Vorabendserien auf Sitzgruppen aus braunem Cordsamt ausstrahlen, und landen im Hobbykeller eines Erfinders und Generalvertreters für die japanische Firma, die die Videoanlagen herstellt. Wir haben aufgeschrieben, was wir uns vorstellen. Wir wollen Programme aus dem Fernsehen überspielen und brauchen Verbindungskabel zwischen dem Videorecorder und dem Fernseher. Wir wollen die Programme kommentieren und brauchen die Verbindung zu einem Revox-Tonband, das Philip S. angeschafft hat. Wir würden auch gerne eine Verbindung zwischen Videorecorder und einem Filmprojektor herstellen, um Filme auf Video kopieren zu können. Aber die technische Entwicklung steckt in den Anfängen, und die Laufgeschwindigkeit beider Systeme ist unterschiedlich. Philip S. und der Erfinder lassen den Motor des Projektors an ihren Händen entlangschleifen und versuchen so die Geschwindigkeit zu drosseln, um sie in Gleichklang mit dem Videorecorder zu bringen. Stets aber zieht sich ein Strich auf dem Monitor durchs Bild, und es will nicht gelingen. Wir verbringen die Nacht zwischen Kabeln, Steckern und Lötkolben. Am nächsten Tag kehren wir mit
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