Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
muss. Ich weiß nur, dass ich sofort nach Hause will, zu meinem Sohn und zu Philip S., der auf mich wartet. Die anderen wollen nur noch ein Stück weiterfahren, um einen sechzehnjährigen geflohenen Heimzögling in eine Wohnung zu bringen, wo er schlafen kann. Die kurze Strecke könnte ich noch mitfahren. Aber ich halte es keine Minute länger aus. Ich muss raus, es ist mir plötzlich zu eng im Auto, ich fühle mich wie in einem Käfig. Ich kann nicht zurückholen, was mir durch den Kopf gegangen ist, während ich die Straße entlanglaufe, die in gerader Linie auf das Tor unseres Hauses zuführt. Der »Anschlag«, wie es in der Zeitung heißen wird, schrumpft unter meinen Schritten zu einem Nichts. Es ist etwas anderes, es sich vorzustellen, als es zu tun. Zurück bleibt die Leere. Alle Versuche, Jahre später etwas auf einen Begriff zu bringen, was in der Stimmung eines Augenblicks entstanden ist, führen zu falschen Worten und falschen Sätzen. Sie bleiben Rechtfertigungen, zu moralisch oder zu leicht genommen. Mir ist kalt auf dem Weg durch die Nacht, und ich will nur noch in die Wärme jenseits des Tors zurück, das schwer hinter mir ins Schloss fällt.
Im Durchgang zum zweiten Hof bleibe ich einen Moment lang stehen. Hinter der erleuchteten Fensterfront sehe ich Philip S., der in der Küche hin und her geht. Er hat sich an diesem Tag um den Haushalt gekümmert und meinen Sohn ins Bett gebracht, er hat ihm vorgelesen undräumt gerade die Küche auf. Er trägt das Geschirr vom Tisch ins Spülbecken. Ab und zu schaut er durchs Fenster in die Dunkelheit hinaus. Er wartet. Jetzt hat er Schritte gehört, kann aber nichts erkennen. Er ist unruhig. Er setzt sich wieder hin und beugt sich über ein Kofferradio. Mit der einen Hand bewegt er die Antenne hin und her. An der konzentrierten Art, wie er der Bewegung mit dem rechten Ohr folgt, kann ich erkennen, dass er die Frequenz für den Polizeifunk sucht. Als ich die Treppe hochsteige, weiß er schon, was ich noch nicht weiß. Er hat die Fahndung von Anfang an mit verfolgt. Der kleine graue Citroën ist inzwischen von einer Polizeistreife angehalten worden. Dass ich zwei, drei Minuten zuvor ausgestiegen bin, weiß er nicht.
Unsere Freunde kommen in dieser Nacht nicht mehr nach Hause. Es wird ein Jahr dauern, bis wir sie wiedersehen.
Im Morgengrauen zieht sich Philip S. eilig etwas über und öffnet die Eisentür, bevor die Polizei sie mit Äxten aus den Angeln schlagen wird. Ich bin ins Kinderzimmer gegangen und lege mich zu meinem Sohn, der weiterschläft. Ich schließe die Augen, will es nicht sehen und nicht hören, wie sie Regale und Schränke durchwühlen. Noch sind sie ohne Maschinenpistolen gekommen. Sie haben einen Hausdurchsuchungsbefehl wegen vorsätzlicher Brandstiftung und suchen nach Beweisen. Aber sie finden nichts, was sie im Durchsuchungsprotokoll unter der Rubrik »Sicherstellung beschlagnahmter Gegenstände« eintragen könnten. Am nächsten Tag jedoch ist in der Zeitung von aufgefundenen Drogen und Benzinkanistern die Rede.
Der Hausbesitzer wirft die Kündigung in den Briefkasten, nachdem er die Bildzeitung mit den Fotos der Verhafteten gesehen hat. Er nimmt sie zurück, nachdem Philip S. mit ihm in seinem Büro mehrere Gläser Korn getrunken hat. Wir hoffen auf die erste Haftprüfung am nächsten Tag, auf die zweite in zwei Wochen, auf die dritte nach einem Monat. Dann werden die Abstände länger. Wir stellen Besuchsanträge, zahlen Geld ein, damit sich unsere Freunde im Gefängnis etwas kaufen können, bringen Kleider und Bücher, eine Schreibmaschine. Zu Hause gehen wir durch die leeren Räume. Ich sehe ihre Dinge, die sie haben herumliegen lassen, als wären sie nur kurz weggegangen. Auf einem Schreibtisch französische Texte, die noch nicht fertig übersetzt sind, auf einem anderen Abrechnungen von Taxifahrten. Wir sind jetzt nur noch drei Erwachsene. H. hat sich in der oberen Etage in dem kleinen Raum, der an das Studio grenzt, eingerichtet. Meine Freundin C. ist schon vorher mit ihrer kleinen Tochter weitergezogen, unterwegs zu Neuem, weil ihr unruhiger Geist die Orte, an denen sie sich niederlässt, schnell verbraucht. Sie fährt nicht mehr in die Palästinenserlager nach Jordanien. Sie verbringt Monate in Indien und bringt mir von dort einen silbernen Halsschmuck mit. Fünf Jahre später gerät ihr Leben zwischen politischer Radikalität und bewusstseinserweiternden Drogen völlig aus der Balance. Obwohl ich damals nicht mehr in Berlin
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