Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
dem Bus voller Geräte zurück. Sie werden in die obere Etage transportiert. Philip S. schließt sie Stück für Stück aneinander an und richtet das Studio ein.
Die frühen Filme von Dziga Vertov bringen ihn auf dieIdee, ein Studio für Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Dziga Vertov hatte in den ersten Jahren nach der russischen Revolution mit einer von ihm entwickelten Montagetechnik eine Art Wochenschau zur Agitation der Landbevölkerung hergestellt. Er hatte gefilmt, wie ein Dorf an den elektrischen Strom angeschlossen wird und in allen Häusern das Licht angeht. Dann war er mit dem Film von Dorf zu Dorf gefahren und hatte den Fortschritt vorgeführt.
Für Philip S. öffnet sich eine Welt, die er nicht kennt. Sie ist nicht mehr wie beim Taxifahren nur ein nächtlicher Ausflug. Wir leben jetzt in einem Viertel mit vielen ausländischen Bewohnern. Ihre Wohnungen sind feucht, die Heizungen reichen in dem kalten Berliner Winter nicht aus, die Fensterrahmen sind verzogen und schließen schlecht. Unsere Nachbarn verstehen nicht, was in ihren Mietverträgen steht. Sie wissen nicht, dass sie Rechte haben. Wir organisieren gemeinsam mit einem Mietanwalt eine Versammlung der Bewohner, um herauszufinden, ob die Mieten gekürzt werden können, weil sie wegen des Zustands der Wohnungen nicht zu rechtfertigen sind. Die Versammlung wird mit der neuen Videokamera aufgezeichnet und soll in einem Stadtteilladen gezeigt werden. Philip S. plant auch eine Gegen-Abendschau, die auf Berichte der Berliner Abendschau mit einer anderen Sicht der Dinge reagiert. Er stellt sich einen Monitor in einem Schaufenster mit regelmäßigen Programmen vor und sieht bereits eine Traube von Menschen, die stehenbleiben und in das Schaufenster schauen. Er ist der erste, der in Berlin mit einer halb professionellen Videoanlage arbeitet. Studenten von der Akademie kommen, die von den Möglichkeiten der tragbaren, elektronischen Kamera gehört haben, und Philip S. kehrtals Lehrer an die Schule zurück. Er gründet das »Institut für Videografie« mit offiziellem Briefkopf. Die Studenten leihen sich die Geräte aus und arbeiten damit. Die Akademie bezahlt die Leihgebühr, und davon leben wir.
Unsere obere Etage ist jetzt ständig voller Leute. An langen Tischen stellen sie eine Zeitung her, die häufig ihre Herausgeber wechselt, weil sie wegen der aggressiven, gegen die Vereinigten Staaten und den Vietnamkrieg gerichteten Artikel immer wieder verboten wird. Die einzelnen Nummern werden geplant, geschrieben, diskutiert, gestaltet, geklebt, in Umschläge gesteckt, die wir alle auf Vorrat adressieren und an Abonnenten verschicken. Nach Wochen der Müdigkeit bin ich wieder gesund. Es ist Frühling geworden.
XVI
Die Amerikaner sind in Kambodscha einmarschiert. Am Montag, dem vierten März 1970, werden in Kent, im Bundesstaat Ohio, während einer Protestdemonstration vier Studenten von der Nationalgarde erschossen. Die Nachricht spricht sich am späten Abend herum. Schnell finden sich jene in einem spontanen Aufbruch zusammen, die etwas tun wollen, darunter auch ich. In den Taschen haben wir Pflastersteine. Auf der Grünfläche vor dem Amerikahaus stehen zwei Polizisten mit Maschinenpistolen. In dem Augenblick, als eine Autoschlange vor dem Amerikahaus vorfährt, hören die beiden Polizisten von der unbewachten Rückseite des flachen Gebäudes her Fensterscheiben klirren; während sie fester nach ihren Maschinenpistolen greifen und zur hinteren Seite des Hauses stürmen, werden, wie am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen ist, bei laufenden Motoren die Türen von sechs bis acht Autos aufgerissen. Dunkle Gestalten springen heraus, in den Händen Pflastersteine und Brandflaschen. Mein Stein landet in einer Hecke. H., der Autor des Films über die Herstellung eines Molotow-Cocktails, holt mit seiner Brandflasche zu weit nach hinten aus, so dass seine Jacke Feuer fängt, beinahe auch sein Haar. Ich schreie laut auf. Die Flasche entgleitet ihm und fällt mit dumpfem Aufschlag in die nasse Rasenfläche vor dem Amerikahaus. Als die Polizisten wieder vor dem Gebäude auftauchen, ist die Schlange verschwunden. Nur ein kleiner grauer Citroën,heißt es am nächsten Tag in der Zeitung, sei mit stotterndem Motor so langsam um die Ecke gebogen, dass ein Polizist zwei Ziffern der Autonummer habe erkennen können. Und während bereits die Fahndung eingesetzt hat, fährt der Citroën unbehelligt durch das leere Berlin.
Ich weiß nicht, warum ich plötzlich aussteigen
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