Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
lebte, hatte ich sie kurz zuvor besucht und auch diesmal nicht gespürt, dass sie noch einmal all ihre verschiedenen Gesichter strahlen ließ, um zu verbergen, wie nah sie am Abgrund stand. Im Winter 1975, einige Monate nach dem Tod von H. und einige Monate vor dem Tod von Philip S., bringt sie ihre Tochter zur Großmutter. Dann, hörte ich, habe sie ihr schönstesKleid angezogen und sich im Grunewald zum Sterben in den Schnee gelegt.
Am vierzehnten Mai kommt die Polizei wieder. Sie kommt mittags, und ich bin froh, dass mein Sohn im Kinderladen ist. Sie suchen einen entflohenen Häftling, der vor zwei Jahren mit anderen im Protest gegen den Vietnamkrieg in einem Frankfurter Kaufhaus Feuer gelegt hatte. Mit Hilfe einer bekannten Journalistin, die vorgab, mit ihm an einem Buch arbeiten zu wollen, wurde er mit Waffengewalt aus einer Bibliothek befreit. Die Polizisten kommen mit gezogenen Pistolen. Einer hält H. die Waffe an die Schläfe, als er zum Telefon greifen will, um einen Anwalt anzurufen.
Am siebzehnten Mai kommen sie am späten Sonntagvormittag, wieder mit gezogenen Pistolen, weil sie nun nach der bekannten Journalistin suchen, die meinen Vornamen trägt und mit dem Häftling durch das Fenster der Bibliothek geflohen war. »Flüchtige Rechtsbrecher« heißt es auf dem Durchsuchungsbefehl. Sie reißen die Ordner des Zeitungsarchivs aus den Regalen; wie aufflatternde Vögel fliegen sie unter den Händen der Polizisten durch die Luft und landen auf dem Boden. Wieder finden sie nichts, was sie beschlagnahmen könnten. Mein Sohn nimmt eine kleine Armbrust und pflanzt Pfeile mit Gummisaugpfropfen um die riesigen Füße eines unbeweglich im Raum stehenden Polizisten, der es geschehen lässt. Philip S. schweißt mit Hilfe von Otto und Ernst aus der Schlosserwerkstatt einen Riegel an unsere Eingangstür, der nachts vorgeschoben wird, damit wir uns noch anziehen können, bevor die Tür das nächste Mal aufgebrochen wird.
Am zehnten Juli kommen sie im Morgengrauen, weil in München zwei nicht funktionierende Brandsätze in einemGerichtsgebäude gefunden worden sind. Diesmal beschlagnahmen sie zwei handgeschriebene Briefbögen, auf denen »Holt die Menschen raus« und »Wir wollen mehr Information« zu lesen ist. Sie beschlagnahmen auch das Plakat, auf dem die Freiheit eines verhafteten Anarchisten gefordert wird, das immer noch im oberen Stock an der Wand hängt.
Am vierzehnten August kommen sie gegen Mittag. Sie kommen wegen H. Er hatte am Abend zuvor sein Auto verliehen. Noch in der Nacht wurde aus diesem Auto eine sogenannte Rohrbombe unter ein Polizeiauto geworfen. Er war in der Nacht gewarnt worden. Als sein Bild am nächsten Tag im Fernsehen erscheint, stellt er sich der Polizei. Das Foto erscheint auch in der Bildzeitung. Wieder kündigt der Hausbesitzer, als er es zu Gesicht bekommt. Wieder verbringt Philip S. Stunden mit ihm in seinem dunklen Büro, starrt mit ihm gemeinsam auf die allmählich verschwimmenden Mülltonnen vor dem Fenster, bis sie Brüderschaft trinken und er die Kündigung wieder zurücknimmt. Dann räumen wir auf.
XVII
Philip S. und ich sind jetzt allein. Wir stellen hier etwas an seinen Platz zurück und dort. Dann gehen wir zum Anwalt, um zu bezeugen, dass wir zu dem Zeitpunkt, als die Rohrbombe unter das Polizeiauto flog, mit H. in der oberen Etage am Layout für die nächste Nummer der Zeitung gearbeitet haben, nicht ahnend, dass uns dieses Alibi selbst ins Gefängnis bringen würde. Wir hatten Artikel über Vietnam, den amerikanischen Imperialismus und die Black Panther Bewegung zusammengestellt und grelle Comics, in denen sich das Wort ›Pig‹ häuft, dazwischengeklebt.
Ich bin froh, dass mein Sohn das, was jetzt geschieht, nicht mit ansehen muss. Er ist mit seinem besten Freund und der Familie in die Ferien gefahren, eine längere Reise mit dem Zelt, für die wir einen Schlafsack angeschafft haben, eine Matte, einen kleinen Rucksack für Wanderungen, Wanderschuhe, ein Taschenmesser, eine Taschenlampe. Lange haben wir gemeinsam überlegt, ob er das Überbleibsel einer gestrickten Decke, die ihn von seiner Geburt an warmgehalten hat, ob er dieses ausgefranste Restchen, das er beim Einschlafen zwischen Zeigefinger und Ringfinger hält und damit sanft über sein geschlossenes Augenlid streicht, mit auf die Reise nehmen sollte. Er entscheidet sich dagegen und nimmt mein Lieblings-T-Shirt mit, in dem der Geruch von Arpège hängt. Er hält es noch in der Hand, als erbereits hinten
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