Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
milder. Dann schaut er sich den Fortschritt der Renovierungsarbeiten an und schlägt uns auf die Schulter.
Im letzten Hinterhof haben wir die erste und zweite Etage einer ehemaligen Manufaktur gemietet, die innen mit einer Treppe verbunden sind. Über uns lebt eine Malerin mit zwei sehr kleinen Zwillingstöchtern und ihrem Mann, der ebenfalls aus der Filmakademie herausgeflogen ist. Unter uns betreibt ein Schlosser, dessen Lachen an Anthony Quinn erinnert, zusammen mit einem Gehilfen eine Werkstatt. Mit uns sind noch ein Taxifahrer und seine Gefährtin eingezogen. Wir waren ihnen begegnet, als wir im Spätsommer 1969 noch einmal nach Italien fuhren undvon Civitavecchia aus mit der Fähre nach Sardinien übersetzten. In einem Dorf mit kommunistischem Bürgermeister hatte der Taxifahrer sein Auto bei einer nächtlichen Kneipentour gegen ein Hindernis gefahren. Am nächsten Morgen stand der Renault 4 mit zwei eingedrückten Türen an einer Mauer, die mit revolutionären Parolen wie »Nieder mit …« und »Vorwärts« beschriftet war. Die Freundschaft zwischen Philip S. und dem Taxifahrer entstand, als sie einen abgepolsterten Baumstamm gemeinsam von innen gegen die Türen rammten und so die Beulen wieder herausdrückten. Ich suche von Anfang an die Nähe von M., der Gefährtin des Taxifahrers. Sie ist Übersetzerin, einige Jahre älter als ich, und ihre stille Strenge zieht mich an.
In den beiden Etagen gibt es kaum Zwischenwände. Im ersten Stock teilen wir eine große Küche ab. An einen riesigen Raum schließen sich zwei Zimmer an, eines davon wird das Kinderzimmer. Wir kommen schnell voran. Eine Dusche wird eingebaut, die Dielen werden abgezogen. Philip S. hat mit Otto und Ernst, den beiden Schlossern aus der Werkstatt, mehrere niedrige Rohrgestelle geschweißt, die sich beliebig aneinanderschieben lassen. Er hat Holzplatten auf die Gestelle geschraubt, ich habe Schaumstoffmatten mit Markisenstoff überzogen. Darauf schlafen wir, sitzen wir, diskutieren wir. Neben Zeichenböcken mit Türblättern sind es die wesentlichen Einrichtungsgegenstände. Die Nikon liegt jetzt in einem alten Stahlschrank mit Schubladen. In der Küche ein Tisch mit Thonetstühlen. Zwölf Menschen finden daran Platz. Sonst nur Regale, für Bücher, Geschirr und Kleider, Tische und zwei alte Ledersofas.
Auch in der oberen Etage ein einziger Raum mit einem kleinen abgetrennten Zimmer. Die Dielen verzogen und uneben. An Stricken ziehen wir riesige Platten durch die Fenster hinauf, um einen zweiten Fußboden einzubauen, der glatt ist und auf dem man mit einer Kamera hin- und herfahren kann. Den Boden besprühen wir mit silbernem Lack.
Philip S. hat eine Dunkelkammer für mich eingerichtet und einen gebrauchten Leitz-Vergrößerungsapparat gekauft, dessen Schärfe sich automatisch regelt. Ich fotografiere die beiden Etagen und vergrößere die Aufnahmen in meiner Kammer auf Dokumentenpapier. Auf den Bildern fällt das Licht durch die Fensterreihen, es fällt auf ihn, als er in dem großen Raum im zweiten Stock das Silber auf den Bodenplatten ausbessert. Es fällt auf meine Freundin C., die mit ihrer kleinen Tochter zu uns gezogen ist und in der grünen Samthose an einer Säule mitten im Raum lehnt. M. arbeitet an einer Übersetzung. Sie schaut von ihrer Arbeit hoch und zieht an einer Zigarette. Mein Sohn springt auf den Matratzen herum. Der Taxifahrer steht in der Küche und kocht. Wir alle warten, dass er uns zum Essen ruft. Im Hintergrund beugt sich H., der Autor des Films Die Herstellung eines Molotow-Cocktails , über einen Tisch. Die langen dunklen Haare fallen über sein Gesicht. Hinter ihm Regale mit Ordnern voller Zeitungsausschnitte. Er ist vorbeigekommen und geblieben.
Auf einem Foto bin auch ich zu sehen. Ich sitze auf einem der Ledersofas mit angezogenen Beinen. Neben mir an der Wand ein Plakat, auf dem Freiheit für einen anarchistischen Gefangenen gefordert wird. Über einer schwarzen Hose und einem schwarzen Pullover trage ich den Gürtel, den Kälbergurt. Vielleicht hat H. das Bild gemacht. Erhat ein paar Wörter darauf hinterlassen, eine inzwischen fast verblasste Botschaft aus anderen Zeiten. »Liebe Ulrike«, schreibt er im Januar 1970 auf den Abzug, … »ratlos im Haus, was tun? Aber die Revolution schreitet voran.«
XV
Das Licht fällt in den ersten Januartagen durch die langen Fensterreihen auch auf mein Bett. Nachts bin ich mit Übelkeit, Brechreiz und stechenden Kopfschmerzen aufgewacht. Alles verlangsamt sich. Ich
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