Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
verschwand, tauchte wieder auf, gab es zurück und verschwand wieder. Als ich sie das letzte Mal sah, hatte sie Worte gesagt, die Philip S. bald sagen würde: Dass man bereit sein müsse, sich von seinen eigenen Kindern zu trennen, wenn man eine bessere Welt für alle schaffen wolle. Sie wird sich an ihren eigenen Anspruch halten, den Sohn bei ihren Eltern zurücklassen und ihrenWeg weitergehen, der sie zwischen längeren oder kürzeren Gefängnisaufenthalten wieder in den Nahen Osten führt, wo sie Jahre später bei einem israelischen Luftangriff auf ein palästinensisches Flüchtlingslager im Libanon getötet wird. Am nächsten Tag erscheint sie nicht mehr im Hof. Weil sie nach mir gerufen hat, wird sie an einen anderen Ort gebracht. Ich komme ins Untersuchungsgefängnis Moabit, weil ich ihr mit einer Handbewegung geantwortet habe.
Die Zelle liegt in einem Turm. Der Turm ist an das alte Gefängnis angebaut. Gegenüber die Zelle von M. Leise und gleichmäßig dringen die Anschläge ihrer Schreibmaschine durch die Wand. Dann wieder Stille. Ich versuche mir vorzustellen, was sie in der Stille tut. Vielleicht strickt sie. Vorige Woche hatte ich ihr Wolle besorgt. Ich rufe nicht. Unsere Fenster liegen nicht nebeneinander. Ihres geht auf die Straße hinaus. Meines zum Hof und auf einen Kirchturm. Ich verstumme im Eingeschlossensein. Es erschreckt mich, meine Stimme zu hören. Nur einmal begegne ich ihr, als sie von der Freistunde zurückkommt und ich in den Hof gebracht werde. Bevor wir uns in die Arme fallen können, werden wir auseinandergerissen. Die Zelle ist größer als die in der Kantstraße, aber genauso kalt, obwohl draußen Sommer ist. Durch das Fenster fällt mehr Licht. Auf den Zehenspitzen kann ich rausschauen. Manchmal sehe ich M. von hoch oben. Sie geht wie ich alleine, immer im Kreis, eine halbe Stunde lang. Wir sind die einzigen Frauen, abgesondert von den Männern, die in ihre Zellen eingeschlossen bleiben, wenn wir durch die Gänge geführt werden. Hinter einer der zahllosen Türen Philip S. Aber ich sehe ihn kein einziges Mal. Hin und wieder erreicht mich sein Gruß über einen Anwalt, sonst nichts. Ich höre, dass ereinen Hungerstreik begonnen hat, dass er in der Freistunde Gefangene aufgewiegelt und mit Fesseln zwei Tage in der Arrestzelle verbracht hat. Hier, in diesen Mauern, lebt er ein anderes Leben als ich, ein Männerleben. Er erprobt eine Rolle. Sucht die Konfrontation. Will erfahren, wie weit er gehen kann. Ich bin woanders. Ich gehe nach innen, will es überstehen, wie auch immer es ausgeht. Meine Gedanken reichen nur bis zu meinem kleinen Sohn. Nicht weiter. Einzig darauf konzentriert, wieder draußen zu sein, bevor er aus den Ferien zurückkommt, fliehe ich in Tagträume, Fluchtträume, stundenlang. Aber alle Fluchtträume enden irgendwann in dem trostlosen Leben danach, dem Versteckspiel in fremden Wohnungen mit falschen Papieren, der ewigen Angst vor Entdeckung und den Lügen, die ich meinem Kind würde erzählen müssen.
XIX
Der Richter lässt mich nicht frei. Es ist der sechsundzwanzigste August. Die Abstände werden jetzt größer. Zwei Wochen bis zur nächsten Haftprüfung. Ich schreibe Briefe, mache Pläne, wo mein Kind bleiben könnte, wenn man mich auch dann nicht freilässt. Es sind zu viele Briefe und sie sind zu lang. Ich muss mich kürzer fassen und deutlicher schreiben, sagt die Gefängnisleitung, die jedes Wort kontrolliert. Ich muss mich auf Dauer einrichten, die Stunden strukturieren, festhalten, was am Tag geschieht, notieren, was ich sehe, wenn ich meinen Kopf zum Fenster hochrecke, ich muss versuchen, beim Anblick des regennassen Daches einer Kirche im Fensterausschnitt nicht an die Verse von Verlaine zu denken, die mir dennoch nicht aus dem Kopf gehen wollen, Verse, die er im Gefängnis geschrieben hat, voll Reue und Klage über seine vergeudete Jugend. Vielleicht sollte ich Spanisch lernen und Gymnastik machen. Alles nach Plan. Kein Leerlauf, nicht die Zeit totschlagen. Die Zeit nutzen. Nicht warten. Keine Verzweiflung. Manchmal steigt der Gedanke an Verrat in mir auf. Ich weiß, wer das Auto in der Nacht des vierzehnten August bei uns ausgeliehen hat. Der Schlüssel hing griffbereit neben der Eingangstür. Aber wie werde ich weiterleben können, als Verräterin und von allen gemieden?
Freundinnen haben in meinem Schrank Kleider ausgesucht und geben sie an der Pforte ab. Die Wärterin ziehteine durchsichtige Chiffonbluse aus der Tüte, einen langen Samtrock, ein
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