Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Aufgenommen am siebzehnten September 1970 in der Akademie der Künste, drei Tage nach unserer Rückkehr aus dem Gefängnis, Szenen eines Stücks über eine Jugendrevolte, in dem die Zuschauer aufgefordert werden einzugreifen. Philip S. geht auf die Bühne und spielt noch einmal, was er gerade erlebt hat. Er lässt sich verhaften, erkennungsdienstlich behandeln und abführen. Er weiß jetzt, wie es ist.
Wir sind nicht an den gleichen Ort zurückgekehrt, nicht in das gleiche Leben. Aber das wissen wir noch nicht. Erst später sehe ich deutlich, wie in dem, was damals geschah, schon das Zukünftige aufschien. Unter der Hand veränderte sich etwas, das ich im Rückblick als Zeitwende begreife, das Leben spaltete sich auf in die Zeit vor dem Gefängnis und in die danach. Aber noch decken sich die Bilder von vorher mit denen der Gegenwart; nur kurze Zeit später passen die Konturen nicht mehr übereinander.
Auch H. nimmt nur scheinbar seine unbestimmte Freundlichkeit wieder an. Die Wochen unschuldig verbüßter Haft geben seinem Leben eine andere Richtung. Er bleibt noch eine Weile, aber er verbringt Tage allein in einem Zimmer in der oberen Etage, zieht sich in eine Einsamkeit zurück, über die er sein scheues Lächeln breitet. Dann verschwindet er, kommt aber noch einmal zurück, um sich zu verabschieden. Er umarmt uns mit der unverlässlichen Nähe, die schnell vorüber ist. Er sagt nicht,wohin er geht. Er braucht es nicht zu sagen, wir ahnen es ohnehin. Aber wir können uns nicht vorstellen, dass es für immer sein wird. Er schließt sich einer Gruppe an, die aus der Illegalität heraus eine gewalttätige Konfrontation mit der Macht des Staates sucht und in den kommenden Jahren erbarmungslos gejagt wird. Mit ihm geht ein junges Mädchen. Weggelaufen von zu Hause, hat sie bei uns Unterschlupf gesucht. Zwei, drei Dinge bleiben von beiden zurück. Schulhefte von ihr, eine winzige Kamera von ihm und ein paar Taschenbücher, an deren Einbänden kleine Ecken herausgeschnitten sind, um Mundstücke für Joints zu rollen. Eine Zeitlang kommen noch Anrufe von seinem Vater, die mit jedem Mal besorgter werden. Ich versuche ihn zu beruhigen: H. sei vielleicht nach Italien gefahren oder nach Frankreich und komme bestimmt bald wieder zurück. Aber die Worte klingen unglaubwürdig in meinen Ohren. Zwei Jahre später wird H. unter erdrückenden Vorwürfen verhaftet. Ich weiß nicht, ob er je selbst eine Bombe gelegt hat, die einen Menschen tötete. Aber er soll, heißt es, derjenige gewesen sein, der unauffällig wie ein Handlungsreisender Ziele für Anschläge auskundschaftete. Auf diese Weise vermied er, sich selbst in seinen Taten zu begegnen, er hielt Abstand zu den Folgen und zu den Opfern, eine innere Entfernung, in die er stets auswich, wenn Menschen ihm zu nahezukommen drohten. Kaum wiederzuerkennen, wird er, entkleidet, vor laufenden Kameras abgeführt. Seine Arme sind dabei so verdreht, dass er einen Schrei ausstößt, der lange nachhallt. »Meinem Sohn ist alle Gewalttätigkeit fremd«, sagt der Vater nach der Verhaftung, und auf unbegreifliche Weise scheint mir wahr, was er sagt.
Als H. vier Jahre später, während eines Hungerstreiks und nach seinem letzten stummen Notruf, in einem alten Backsteingefängnis in der Eifel stirbt, hört ihn niemand mehr. Die Qual der Zwangsernährung hat er niedergeschrieben. Die Zellen über ihm und neben ihm sind leer. Er ist ganz allein. Am neunten November 1974, dem Tag seines Todes, kommt kein Arzt, kein Wärter. Er ist gerade dreiunddreißig Jahre alt geworden. Seine Hände, die beim Reden so oft Gedanken und Wörter mit anmutigen Bewegungen in der Luft unterstrichen haben, um ihnen die Schärfe zu nehmen, die zuweilen darin zu finden war, sind im Sarg gefaltet, die Fingernägel überlang. Das Laken bedeckt keinen Körper mehr, nur noch Haut und Knochen.
Seit mein Sohn am Abend dieses neunten November die Nachricht gehört hat, versucht er einen Weg aus der Beklemmung zu finden, die sein Herz schwer macht. Er ruft mich noch einmal, als er im Bett liegt. Vor langer Zeit hatte er ein Bild für H. gemalt, ein Haus, einen Garten, ein Indianerzelt. Weil er »Freiheit für H.« darauf geschrieben hatte, wurde das Bild von der Gefängnisleitung wieder zurückgeschickt. Er will mir noch etwas sagen. Kurz vor dem Einschlafen hat er die Vorsicht entdeckt und gibt seine Erkenntnis an mich weiter wie etwas, das ich in meinem Gedächtnis bewahren soll. Ich solle mir vorstellen, sagt er, wir
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