Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Eingeschlossenseins, die sich hinzieht, ohne dass ich ein Ende absehen kann – um der tausendsechshundert Seiten willen.
Noch weiß ich nicht, dass diese Nacht die letzte in der Zelle sein wird, Wand an Wand mit M. in stummem Horchen auf ihre leise Geschäftigkeit. Möglicherweise wäre ich neben ihr im Gefängnis geblieben und hätte noch lange darauf gewartet, dass Experten die Schweißerhandschrift auf dem Deckel der Rohrbombe und die Schweißnaht an der Verriegelung unserer Eingangstür entschlüsseln und als nicht identisch zu Protokoll geben, wenn es da nicht eine junge rauschgiftsüchtige Frau gegeben hätte. Eine der Bräute, wie es heißt, eine, die immer mittendrin ist im Truppder sogenannten Haschrebellen, die umherschweifen und nächtliche Anschläge verüben. Sie, fast noch ein Mädchen, wird zu meinem Schutzengel. Sie ergibt sich dem Druck des Oberstaatsanwalts, der ihr Versprechungen macht und sie befragt, während sie, eine Schwerkranke, vom Rauschgift loszukommen versucht. Sie sagt alles, was sie weiß, alles, was sie gesehen, gehört und selber mitgemacht hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es ihr in ihrer unsteten und gefährdeten Seele um die Wahrheit ging oder ob sie sich nur an die Stunden erinnerte, die sie an meiner Nähmaschine verbracht hatte, um sich mit meiner Hilfe ein Oberteil für einen Sommerrock zu nähen. Ihre Aussage bringt andere ins Gefängnis oder treibt sie auf der Flucht vor dem Zugriff der Justiz in den Untergrund. Uns aber entlässt sie in die Freiheit.
Die Wärterin kommt am späten Vormittag. Ich soll meine Sachen packen. Es geht alles ganz schnell. Draußen ist es sonnig und warm. Seit einer Stunde sitzen Freunde vor dem Ausgang Alt-Moabit 12a auf einer Treppe. Mein Sohn rollt den Bürgersteig rauf und runter und wünscht sich eine Cola. Ich komme mit einer Tüte durch das Tor, darin der weiße Fuchs, die Kleider und Der Mann ohne Eigenschaften aus der Asservatenkammer, das Lesezeichen immer noch da, wo ich es hineingelegt hatte, am Anfang bei den meteorologischen Bedingungen eines schönen Augusttages 1913 mit geringer Luftfeuchtigkeit. Mein Sohn springt mit den Rollschuhen die flachen Eingangsstufen hinauf. Als erstes gehen wir zu einem Kiosk. Dann sitzen wir nebeneinander vor dem hohen eisernen Tor in der Sonne und warten. H. erscheint als Zweiter, leichtfüßig, sich verwundert die langen Haare aus dem Gesicht streichend, als er uns bemerkt. Dann Philip S. Mit einem Karton unterdem Arm bleibt er auf der obersten Stufe stehen, blinzelt in die Sonne und lacht siegesgewiss. Trotz des Hungerstreiks ist er stämmiger geworden, das Haar kürzer, anstelle des feinen schmalen Barts ein Vollbart, der den weichen Mund verdeckt. Ich laufe ihm nicht entgegen wie die anderen, die auf der Treppe gewartet haben, sondern bleibe auf der untersten Stufe sitzen.
XX
Philip S. und ich gehen durch verwaiste Räume. Meine Tagebücher sind fort. Vielleicht liegen sie noch immer bei den Asservaten der Polizei. Ich wollte sie nicht zurückhaben, nachdem sie dort gelesen worden sind. Meine Dunkelkammer ist leer. Nicht die Polizei hat das Vergrößerungsgerät mitgenommen, sondern andere, unter dem Deckmantel der Freundschaft. Drei Monate später wird es bei einer Hausdurchsuchung in der Fälscherwerkstatt einer Untergrundgruppe gefunden. Mir kommt es vor, als sei ich eine Ewigkeit fortgewesen.
Vor dem Einschlafen klagt sich mein Sohn an, weggefahren zu sein. Wir wären nicht verhaftet worden, sagt er, wenn er dageblieben wäre. Er hatte mit seinem Freund Pläne gemacht, uns rauszuholen, mit einem Hubschrauber, mit einem Seil, durch ein Loch in der Mauer. Für lange Zeit wird er nicht mehr woanders schlafen. Er sagt auch, er habe auf der Reise Heimweh gehabt und die ganze Zeit alleine im Auto in seinem Schlafsack gelegen und nicht im Zelt mit den anderen, fünf Wochen lang. Und dann, bevor ihm die Augen zufallen, wünscht er sich noch, dass Philip S. sich jetzt wie Jimi Hendrix kleiden solle – schwarze Lederhose, viele Ketten um den Hals.
Aber Philip S. wird keine Lederhose tragen, sondern eine schwarze Samthose, die ich ihm genäht habe, und denGürtel, der ihn bis zu seinem letzten Atemzug begleitet. Ich sehe es auf einem Stück Film, den der Zufall mir vierzig Jahre später in die Hände spielt. Der Film ist verwackelt, die Kamera schwenkt ziellos hin und her. Was er zeigt, ist zufällig, aber unwiederholbar, weil es die letzten bewegten Bilder sind, die es von ihm geben wird.
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