Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Hemd, in das eine heimliche Botschaft eingestickt ist, die sie übersehen hat, und einen weißen Fuchs. Außer dem Hemd mit der Botschaft kann ich hier nichts davon anziehen. Nur den Fuchs lege ich eingerollt mit der Schnauze am Schwanz auf mein Kopfkissen und schlafe darauf ein.
Am vierten September, berichtet mein Anwalt, wird aus unserer Eingangstür, an der Stelle, wo Philip S. den Riegel angeschweißt hatte, ein Stück herausgeschnitten und durch ein anderes ersetzt. Schweißnähte, sagt er, seien lesbar wie Handschriften. Die herausgetrennte Naht wird untersucht, ob sie von der gleichen Hand stammt wie die an den Bomben, die man uns zur Last legt. In der Werkstatt unter unserer Wohnung stellen Otto und Ernst unter polizeilicher Aufsicht zwölf Rohrbomben her. Die Bomben werden auf einem Detonationsplatz zur Explosion gebracht. Ihre Sprengkraft soll mit der Bombe unter dem Polizeiauto verglichen werden.
Am fünften September höre ich im Radio, dessen Lautsprecher für eine bestimmte Zeit am Tag eingeschaltet und dann wieder ausgeschaltet wird, die Nachricht von der Wahl Salvador Allendes zum chilenischen Präsidenten. Es ist Samstag. Am Sonntag wird im Zellenradio live von einem Rock-Konzert auf der Insel Fehmarn berichtet. Ich ahne nicht, dass mein Sohn, bereits von der Reise zurückgekehrt, in diesem Augenblick mit seinem Vater auf einer Wiese in Fehmarn sitzt und der Musik von Jimi Hendrix zuhört. Am Nachmittag ist es warm und sonnig im Hof. Ich lehne mich in der Freistunde an eine Mauer.
Am achten September entscheidet der Richter zum dritten Mal, dass ich nicht freigelassen werde. Es besteheFluchtgefahr, sagt er. Ich habe keinen Besitz, der mich davon abhalten könnte zu verschwinden, keine Bindungen, da ich von meinem Mann getrennt sei. Mein Kind zählt nicht. Auch nicht die Kaution, die mein Bruder aufgetrieben hat. Jetzt sind es vier Wochen bis zur nächsten Haftprüfung. Aus der Gefängnisbibliothek habe ich mir Kafkas Schloss ausgeliehen. In den Nächten verfolgt mich der Gedanke, dass der Haftrichter mich niemals mehr freilässt.
Am dreizehnten September werde ich aus meiner Zelle geholt. Mit der Wärterin gehe ich einen langen Gang entlang. Alle paar Meter Gittertüren, die sie rasselnd vor mir aufschließt und rasselnd hinter mir zuschließt. Wie zwischen zwei Spiegeln ziehen sich die immer gleichen Gitter ins Endlose. Von ganz hinten her höre ich ein Dröhnen. Dann sehe ich meinen Sohn auf Rollschuhen durch die Stäbe näher kommen. Er trägt einen roten Helm, die dicken langen Haare wehen darunter hervor. Er umrundet den Wärter und seinen Vater, der Musils Mann ohne Eigenschaften für mich unter dem Arm hat, er fährt Kurven, versucht es auf einem Bein, rückwärts, dann wieder vorwärts, wendet den Kopf, sieht mich, rast auf das letzte uns noch trennende Gitter zu, donnert dagegen und streckt seine Hände hindurch. Bevor ich sie fassen kann, werde ich seitlich in die Besucherzelle abgedrängt. Dann rollt er in den kleinen Raum hinein und in meine Arme. Einmal darf ich ihn unter Aufsicht halten, dann muss ich ihn wieder loslassen. So rollt er weiter um den Tisch, an dem ich sitze. Er rollt dicht an mir vorbei, streift mich, und wir fassen uns bei jeder Runde heimlich unter der Tischplatte an den Händen. Fünfzehn Minuten dröhnt es in der Besucherzelle, dann ist die Zeit abgelaufen. An der Tür dreht er sich noch einmal um. Warum er einen Helm trage, fragtder Wärter. »Man kann nie wissen«, ruft mein Sohn noch, während ihn die Rollschuhe schon vorwärts dem Ausgang zutreiben und er bei jedem Gitter, das sich vor ihm öffnet und hinter ihm schließt, noch einmal winkt. Das Rot des Helms wird kleiner und kleiner, die Stäbe schieben sich übereinander, und er ist weg, mit seinem Vater, der mit ihm in unsere Fabriketage zurückgeht, weil er nur dort auf uns warten will, auf Philip S. und mich, nirgendwo sonst.
Der Mann ohne Eigenschaften liegt noch auf dem Tisch in der Besucherzelle. Als ich danach greifen will, nimmt die Wärterin das Buch an sich. Ich bekomme es nicht, weil es nicht neu, nicht original verpackt ist. Mit Nadelstichen auf einzelnen Buchstaben, sagt sie, könne eine Botschaft darin verborgen sein. Zum ersten Mal bin ich außer mir. Zum ersten Mal schreie ich und schlage in der Zelle so lange an die Tür, bis die Wärterin kommt und mir irgendein Buch zum Lesen bringt. Aber ich will nicht irgendein Buch. Ich will den Mann ohne Eigenschaften für die Zeit des
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