Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
den umherfliegenden Splittern verletzt. Philip S. und ich sind wegen Mordversuchs an einem Polizisten und wegen Sprengstoffvergehens verhaftet worden. Dazu kommen zwei weitere Bombenanschläge, einer auf das Gebäude, in dem gerade der Haftbefehl verlesen wird, und ein anderer auf einen amerikanischen Personenwagen. Die Bomben, davon geht die Polizei aus, sollen von uns in der Werkstatt unter unserer Wohnung hergestellt worden sein.
Wieder werde ich durch die Stadt gefahren. Im Gefangenenbus sitze ich in einer Art Schrank mit Sehschlitz. Es ist immer noch Morgen. Von dem langsam erwachenden Leben in den Straßen bin ich unwiederbringlich entfernt. Der Bus fährt die Kantstraße entlang, überquert die Windscheidstraße, wo mein Bruder wohnt, und hält vor einem Haus mit Gründerzeitfassade, hinter dem sich das Frauengefängnis verbirgt. Vor drei Monaten habe ich eine Kiste mit Büchern für die Bibliothek hierhergebracht. Die Direktorin hatte mich empfangen. Sie hatte sich beklagt, dass sie kein Geld für Bücher habe, und sie hatte sich bedankt. Der Bus fährt mich ins Innere des Gefängnisses: drei gepflasterte Höfe, umgeben von Zellentrakten und hohen Mauern aus dunkelrotem Backstein. Die Höfe ziehen sich bis zu einer efeuüberwachsenen Wand an der Pestalozzistraße, jeder mit schweren Eisentüren verschlossen. Im ersten Hof steige ich aus dem Bus und werde an einer Theke in Empfang genommen. Daneben die Asservatenkammer. Blassgrüne Wände überall, abwaschbar. In der Asservatenkammer lege ich meine Habe auf den Tisch. Eine Wärterin rührt mit einer Stricknadel in der Dose mit Hautcreme von Helena Rubinstein herum. Als sie keine Feile und auch keinen Gegenstand darin findet, mit dem ich mich umbringen könnte, darf ich sie behalten. Auch das Parfüm. Sie bringt mich in den Keller. Ich dusche und wasche die Haare mit Entlausungsmittel. Neben mir duscht ein junges Mädchen. Die Wärterin schaut zu. Es ist ein Gefängnis für Mädchen, die auf den Strich gehen. Die Direktorin ist bestürzt, mich hier wiederzusehen.
Die Zelle ist kalt und schmal. Wenn ich meine Arme ausstrecke, berühre ich zu beiden Seiten die Wände. An der Tür die Hausordnung. Es ist verboten, aus dem Fenster zu schauen, das unerreichbar hoch mit einem schrägen Sims wie ein Lichtschacht in die Stirnwand der Zelle eingelassen ist. Es ist verboten, durchs Fenster zu rufen oder zu winken. Es ist verboten, tagsüber auf dem Bett zu liegen oder darauf zu sitzen. Ich habe kein Buch. Ich könnte mir meine eigenen Bücher ausleihen, aber sie sind inzwischen eingeordnet, und die Bibliothek hat nur mittwochs geöffnet. Heute ist Freitag. Der Tag ist zu lang, zu leer, und die Gedanken quälen. Ich falte Tupfer für die Krankenstation. Ich falte ein Dreieck aus Gaze, mehrmals hintereinander. Die fertigen Tupfer lege ich in einen Kasten. Er ist bald voll. Die immer gleichen Handbewegungen beruhigen mich. Unter der Gleichförmigkeit dieser Verrichtungen bäumt sich mein Gefühl weniger auf, wenn ich an mein Kind denke und an meine Mutter, die klein, zart und krank geworden ist.
Als die Nacht kommt, krieche ich unter die blauweiß karierte Bettdecke, ich friere. Die nächste Haftprüfung ist in einer Woche angesetzt. Noch habe ich Zeit. Mein Sohn wird erst in drei Wochen zurückkommen. Ich stelle ihn mir mit seinem Freund im Zelt vor und versuche einzuschlafen.
Am nächsten Mittag höre ich eine Frauenstimme, die vom Hof aus meinen Namen ruft. Ich schiebe den Tisch an den Lichtschacht, stelle einen Stuhl auf den Tisch und erkenne eine schlanke Gestalt mit feinen blonden Haaren, die tief unten im Hof ihre Runden dreht. Ich kann mir nicht erklären, wie sie so schnell von meiner Anwesenheit erfahren hat. Sie winkt mir zu, möchte mir auf irgendeine Weise eine Zigarette zukommen lassen, versteckt die Zigarette in der Efeuwand. Dann fasst sie sich an die Stirn und erinnert sich, dass ich aufgehört habe zu rauchen. Ich kann mich nicht erinnern, warum sie damals im Gefängnis war. Sie war wie meine Freundin C. ebenfalls in Jordanien in einem Palästinenserlager gewesen und hatte dort bei der medizinischen Versorgung geholfen. Nach ihrer Rückkehr bewegte sie sich in Kreisen, die mit dem Aufbau geheimer Gruppen nach südamerikanischem Vorbild beschäftigt waren und, stets verdächtig, immer Anlass zu Verhaftungen gaben. Auch sie hatte sich, wie meine Freundin C., für Aktionen Kleidungsstücke bei mir ausgeliehen. Sie nahm etwas mit, was zu dem Anlass passte,
Weitere Kostenlose Bücher