Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
neben seinem Freund im Auto sitzt. Aber im letzten Moment, als die Türen geschlossen sind, nimmt er all seinen Mut zusammen und gibt es mir durch das wieder heruntergekurbelte Fenster zurück. Dann fahren sie los. Philip S. und ich bleiben an der Ecke stehen und schauen der kleinen winkenden Hand nach, bis das Auto an der nächsten Kreuzung in südliche Richtung abbiegt.
Am zwanzigsten August gehen wir morgens aus dem Haus. Als wir mittags zurückkommen, hören wir am Eingangstor von den Hausbewohnern, mindestens dreißig Polizisten seien in das Hinterhaus gestürmt. Wir finden die beiden Etagen verwüstet vor. Die Videogeräte sind gerade verliehen und deshalb von dem fettigen schwarzen Pulver verschont geblieben, das über das gesamte Studio verteilt ist, um Fingerabdrücke zu nehmen. Wir überlegen, ob wir verschwinden sollen, unterschlüpfen bei Freunden und abwarten, bis sich die Dinge geklärt haben. Aber wir sind gelähmt und bleiben, obwohl wir spüren, dass sich etwas um uns herum zusammenzieht.
In meiner Erinnerung ist diese Nacht die letzte, die wir in den schönen klaren Räumen der Fabriketage miteinander verbracht haben, obwohl es nicht so war. Wir liegen in der Mitte des Betts, so eng aneinander wie danach nie mehr, als ob wir uns gegenseitig festhalten wollten. Als wir um fünf Uhr morgens die Schläge an der Tür hören, lösen wir uns schweigend voneinander. Stumm ziehe ich mich unter den Augen einer Polizistin an: Hose, Hemd und Jacke, alles aus schwarzem Samt. Es ist Hochsommer, und ich greife nach den Winterstiefeln. Ich packe Hautcreme, Zahnbürste, Parfüm und Wäsche ein. Ich weiß nicht, welche Bücher ich mitnehmen soll, und stecke deshalb garkeines ein. Ich nehme nichts mehr wahr, auch nicht, ob Philip S. überhaupt etwas einpackt.
Die Leute im Haus schlafen noch, als wir durch den Hof geführt werden. Im Polizeibus, der uns drei Straßen weiter ins Polizeigefängnis an der Gothaer Straße bringt, sitzt Philip S. mir gegenüber auf der Bank. Er hat eine Jeansjacke an und nimmt meine Hände in seine. Aus den Ärmeln schauen die Handschellen hervor. »Du musst keine Angst haben«, sagt er leise, »sie wollen uns nur einschüchtern.« Ich erinnere mich noch heute, dass mir das Wort »einschüchtern« zu hoch gegriffen vorkam, so als ob wir etwas Großes zu verbergen hätten, eine historische Tat, und in diesem Augenblick dachte ich darüber nach, dass solche Wörter für ihn von Bedeutung sind, dass er sie braucht und sich an ihnen festhält. Das andere aber, was er sagt, beruhigt mich und gibt mir Zuversicht und Schutz, wie er es immer vermocht hat. Dann werden wir weggeführt, in den Keller, er in eine Zelle, ich in eine andere, weit voneinander entfernt.
XVIII
Es ist der Stein, geht mir in der Zelle durch den Kopf, der Stein, der fürs Amerikahaus gedacht war und doch nur in die Hecke davor gefallen ist. Oder es sind die Scheiben des Senatsgebäudes, denke ich. Oder das Wort »Arbeitermacht« in rotem Lack auf dem weißen Amischlitten. Oder es ist der dunkelgrüne Wildledermantel, den ich meiner Freundin C. geliehen hatte und dann wieder selber trug, ohne zu wissen, dass sie den Mantel auf geheimen Wegen zu ihren gefährlichen Taten benutzt hatte. Oder es ist die Untergrundzeitung, deren Layout noch unfertig in der oberen Etage auf den Tischen liegt und auch diesmal wieder verboten werden wird, weil sie den amerikanischen Präsidenten als Verbrecher und Mörder bezeichnet und die in Berlin stationierten Soldaten zur Befehlsverweigerung aufruft.
Philip S. und ich werden getrennt in die Polizeistation am Tempelhofer Damm gebracht. Meine Finger werden einzeln in eine braune Masse gedrückt, gedreht, nach allen Seiten gewendet. Wie beim Schreibenlernen führt mir ein Polizist die Hand. Feine Muster bleiben auf einer Platte zurück, Muster, die mich überführen sollen. In den Gängen riecht es nach Kaffee.
Der Richter stutzt, als er mein Aufatmen bei der Verlesung des Haftbefehls bemerkt. Es ist nicht die Sachbeschädigung, nicht die Brandstiftung, nicht mein Wildledermantel, es sind nicht die Aufrufe zur Gewalt gegen dieAlliierte Kommandantur in Berlin und die Beleidigungen des amerikanischen Präsidenten. Es ist etwas, mit dem Philip S. und ich ganz und gar nichts zu tun haben. Es ist die Rohrbombe, die in der Nacht zum vierzehnten August vor einem Polizeirevier aus dem Auto, das H. kurz zuvor gekauft hatte, unter einen Streifenwagen geflogen war. Aus purem Zufall wurde niemand von
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