Das verschwundene Kind
lassen wollte?«
»Ja, darüber haben wir uns sehr lange unterhalten. Sie erzählte mir, wie unglücklich sie war, dass der Vater des Kindes sie verlassen hatte. Statt sich über das Kind zu freuen, habe er ihr Geld für die Abtreibung gegeben. Das hat sie total entsetzt. Zu diesem Zeitpunkt sind wir uns wieder begegnet. Sie war Ende des dritten Monats und wusste nicht ein und aus. Sie hatte keine Krankenversicherung, ging nie zum Arzt, wenn ihr etwas fehlte. Ich war schon drauf und dran, ihr anzubieten, dass ich so tue, als sei ich schwanger, und ihr die nötigen Beratungspapiere besorge. Aber der große Altersunterschied zwischen uns wäre bestimmt aufgefallen. Ein paar Tage später sagte sie zu mir: ›Alles in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.‹ Ich fragte, hast du illegal jemanden für die Abtreibung gefunden? ›Nein‹, sagte sie, ›ich behalte das Kind.‹ Das hatte mich total aufgeregt. Ich fragte sie, wie sie das machen wolle? Du musst zum Arzt. Und die Geburt. Wie soll das gehen? ›Alles geregelt‹, sagte sie, und ich soll nicht mehr nachfragen. So blieb es. Wir sahen uns hin und wieder. Es ging ihr gut. Mitte September rief sie mich an. Sie fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, das Kind hin und wieder zu beaufsichtigen. Sie brauchte jetzt jemanden, bei dem sie es unauffällig unterbringen könnte. Ich sagte ihr zu. Am zwanzigsten September wurde die Kleine geboren. Dazu war Hatice irgendwo in einer Klinik.«
Stephan unterbrach sie: »Hat sie Ihnen gesagt, in welcher Klinik sie war?«
»Nein. Auf jeden Fall nicht in Offenbach. Sie sagte, die Klinik sei außerhalb. Man habe ihr dort ermöglicht, das Kind illegal zu bekommen. Sie sei bestens versorgt worden. Mehr wollte sie mir nicht verraten. Drei Tage nach der Geburt rief Hatice mich an. Sie zeigte mir das Baby und gab es mir mit. Von da an habe ich es jeden Tag für mehrere Stunden bei ihr abgeholt.«
»Und Sie haben nicht gefragt, warum sie das so wollte?«
»Doch! Sie meinte, sie wolle nicht, dass die Nachbarn im Haus wegen des Babys Ärger machen.«
»Und das haben Sie ihr geglaubt?«
Die Schröder zog die nächste Zigarette hervor und zündete sie an der vorherigen an. Der Stummel verschwand wieder im Blumenkasten und ergänzte die dort begonnene Reihe. »Nein, ich habe ihr das nicht geglaubt. Sie hatte ein Geheimnis, das sie mir nicht verraten wollte. Und es hatte etwas damit zu tun, dass sie vorhatte, nicht mehr lange in der Domstraße zu bleiben.«
»Ach! Und wo wollte sie hin?«
»Weg, weit weg. Vermutlich ins Ausland. Vielleicht gemeinsam mit dem Vater des Kindes. Neu anfangen, fernab der Verfolgung durch ihre Familie. Vielleicht mit einer neuen Identität.«
»Das hat sie Ihnen gesagt?«
»Nein, hat sie eben nicht. Aber ich dachte es mir. Sie besaß nicht viele Sachen, aber davon hat sie vieles auf verschiedenen Flohmärkten verkauft. Kleider, Taschen, Schuhe. Von Woche zu Woche war weniger von ihr in der Wohnung.«
»Und damit haben Sie sich zufriedengegeben?«
Die Schröder sah ihm beinahe amüsiert ins Gesicht. »Ja. Im Gegensatz zu Ihnen kann ich damit leben, von meinem Mitmenschen nicht immer alles zu wissen.«
Bevor Stephan eine passende Antwort einfiel, wurde die Balkontür geöffnet. Maren kam im Bademantel und mit feuchten Haaren zu ihnen. »Na, genießt ihr das schöne Schmuddelwetter in unserem Freiluftzimmer?«
»Nein, wir sind nur gerade eine rauchen«, erklärte Stephan.
Maren wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht und rümpfte die Nase. Die Schröder hielt ihr das zerknüllte Päckchen hin. »Willst du auch eine, Maren?«
Maren schüttelte angewidert den Kopf und wirkte beinahe grünlich im Gesicht. Zu Lars gewandt, sagte sie in leicht entsetztem Ton: »Seit wann rauchst du wieder?«
»Ich bin der Passivraucher hier«, erklärte er.
Maren lächelte erleichtert.
»Liebe Maren, ich weiß gar nicht, wie ich dir für deine große Hilfe danken soll«, begann die Schröder theatralisch.
»Das glaube ich auf Anhieb«, kommentierte Lars Stephan trocken.
*
Später stand Lars am Wohnzimmerfenster und schaute zu, wie Heck und der Uhu-Mann im schummerigen Gelblicht der Straßenbeleuchtung den Lastwagenfahrer rückwärts in die Einfahrt einwiesen, damit er den randvoll befüllten Container wieder aufladen konnte.
»Sind sie jetzt fertig?«, hörte er Marens matte Stimme im Hintergrund. Sie lag auf der Couch. Er hatte ihr eine Kanne Tee gekocht.
»Gleich«, sagte er. »Heck wird dann
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