Das verschwundene Kind
wohl leider nicht so.«
»Doch«, widersprach Stephan und berichtete, was er von Andrea Schröder erfahren hatte. Anschließend fragte er: »Ihr habt doch gestern noch einmal diesen Florian Sauer aufgesucht. Heck hatte nicht viel Zeit, mir davon zu berichten. Was war dein Eindruck?«
Hölzinger ließ den Kaffee in seinem Becher kreisen und schaute der Bewegung zu. »Heck hatte ihn anfangs noch einmal zu seinem Verhältnis mit der Stummer befragt. Er meinte, sie hätten sich gut verstanden und vorgehabt, später zu heiraten. Aber irgendwie haben sein Gesicht und seine Körperhaltung dabei eine andere Sprache gesprochen. Dann haben wir ihn noch einmal nach seiner Beziehung zu Hatice Ciftci befragt. Erst blieb er dabei, von der Schwangerschaft nichts gewusst zu haben, als er sich von ihr trennte. Heck sagte, er könne sich nicht vorstellen, dass Hatice ihm das verheimlicht habe, er könne sich auch nicht vorstellen, dass er der hochschwangeren Frau nie im Treppenhaus begegnet sei, und so weiter. Doch dieser Sauer wollte uns wirklich weismachen, er habe nichts gewusst. Dann hat Heck ihn mit dem konfrontiert, was die Stummer ausgesagt hatte, nämlich dass der liebe Florian von dem Kind wusste und sich um die hilflose Nachbarin gekümmert hätte. Da rückte er dann heraus mit der Sprache, sagte aber auch nur so viel, um das zu erklären. Hatice hätte ihm von der Schwangerschaft berichtet, aber nicht gesagt, dass er der Vater sei. Ha, ha – wer’s glaubt! Heck fragte ihn, ob er die Geburt in der Geburtsklinik seines Vaters für sie arrangiert habe. Nein, er wisse nicht, wo sie das Kind entbunden hat. Heck hat später dann bei den Taxiunternehmen nachgefragt, ob Mitte, Ende September eine Fahrt von der Domstraße ins Storchennest stattgefunden hat. Bis jetzt Fehlanzeige. Dann haben wir Florian Sauer noch gefragt, ob er Andrea Schröder kenne. Er verneinte. Aus dem ist einfach nichts herauszubekommen.«
Lars Stephan starrte nachdenklich vor sich hin. »Ihr hattet also den Eindruck, dass Florian Sauer euch angelogen hat?«
Hölzinger wiegte den Kopf. »Teilweise ja, teilweise nein. Das ist schwer zu sagen. Der Junge ist nicht leicht zu durchschauen. Auf mich wirkte er so – abgestumpft. Ein merkwürdiger Typ ist das. Der hat kaum Körpersprache. Man spürt bei allem, was er sagt, so eine fürchterliche Gleichgültigkeit, als sei er längst fertig mit der Welt. Sehr oft beginnt er Sätze mit: Soundso möchte …, Soundso hat gesagt …, es war der Wunsch von Soundso, dass … Ich weiß nicht, ob mir im gesamten letzten Jahr eingefallen ist, auch nur einen Satz ein Mal so zu beginnen. Aber der bringt in zwanzig Minuten zehn Wendungen dieser Art zustande. Am liebsten möchte man ihn schütteln und anbrüllen: Mensch, Junge, was willst du denn selbst? Weißt du das überhaupt? Ich glaube, der weiß das nicht. Der jongliert sich so durchs Leben und schwimmt wie ein Korken auf den Wellen, die seine Mitmenschen für ihn erzeugt haben. Vermutlich will der noch nicht einmal Medizin studieren und tut es nur, weil seine Eltern das wünschen. Und ich glaube auch, dass seine Eltern die Verlobung mit der Stummer gern gesehen haben. Also hat er sich gefügt.«
Stephan gefiel es, dass Hölzinger sich so intensiv Gedanken machte.
»Dann lass uns doch mal ein bisschen weiterüberlegen. Was passiert, wenn so ein perfektes, verwöhntes Söhnchen aus gutem Hause plötzlich einem Mädchen wie Hatice Ciftci begegnet?«
In Hölzingers Gesicht stieg eine kaum merkliche Röte. »Nun, er ist sicher zuerst einmal fasziniert von ihrer sanften Schönheit und davon, dass sie so ganz anders ist, als er es aus seinem Umfeld kennt.«
Stephan fuhr fort: »Er begegnet dem Mädchen, sagen wir mal, zufällig in dem Haus in der Domstraße. Vielleicht hat sie ihn um nachbarschaftliche Hilfe gebeten. Da steht sie lächelnd vor ihm: Hätten Sie zufällig noch zwei Eier? Einen Schraubenzieher? Eine Tasse Mehl? Was weiß ich.«
Hölzinger nickte. »In diesem Haus war er endlich einmal ohne den direkten Einfluss seiner Eltern. Das Mädchen suchte seine Hilfe, seinen Schutz. Für sie war er der große Macher. Ihr gefiel die Vorstellung, dass er einmal den angesehenen Arztberuf ausüben würde. Ihr gefiel seine Hilfsbereitschaft. Sie beginnt, von einer Zukunft mit ihm zu träumen.«
Stephan ergänzte: »Sie überflutet ihn mit ihrer Liebe, Zärtlichkeit, Bewunderung und Hingabe. Es ist eine ganz andere Art des Verwöhnens als in seinem Elternhaus. Da
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