Das verschwundene Kind
Nasenspitze. Lars verzog das Gesicht. Beinahe hätte er in einem leichten Anflug von Eifersucht gefragt: Und wer, bitte, ist dieser Andreas, als es ihm blitzartig einfiel: Andrea Schröder!
»Wieso räumt ihr die Wohnung der Schröder aus?«
Maren funkelte ihn an: »Weil es vielleicht weit und breit niemanden gibt, der ihr hilft!«
Sybille trat näher und versuchte, in versöhnlichem Ton zu erklären: »Sie braucht einen Neuanfang. Das schafft sie nicht allein!«
Lars schüttelte entgeistert den Kopf. »Das ist nicht euer Ernst! Ich gebe euch die Garantie, in spätestens vierzehn Tagen sieht das alles genauso aus wie vorher. Bei solchen Leuten …«
»Oh, jetzt ist aber Schluss!«, kreischte Maren. »Ich hätte niemals geglaubt, dass du so voller Vorurteile steckst!«
Nun wurde auch Lars laut. »Das sind keine Vorurteile! Das ist meine berufliche Erfahrung!«
»Das liegt daran, weil dir in deinem Beruf nur die negativen Beispiele begegnen. Die positiven siehst du nicht mehr! Jeder Mensch hat eine Chance verdient! Und ich helfe hier jetzt, weil ich es verdammt arrogant und selbstherrlich von euch Saubermännern finde, wie ihr euch über menschliche Schicksale hinwegsetzt!« Marens Blicke funkelten zwischen Lars und dem Uhu hin und her. Der tauschte stumme Blicke mit Sybille. Dann schauten alle auf Lars und erwarteten ein Machtwort.
»Jedenfalls reicht das Fassungsvermögen sämtlicher Mülltonnen hier nicht aus, um das Chaos da oben nur halbwegs zu entsorgen.«
Maren bemühte sich um Haltung. »Das liegt aber unter anderem auch daran, dass deine Polizisten die Wohnung völlig auseinandergenommen haben. Sämtliche Schubladen sind herausgezogen, die Schränke durchwühlt. Andrea findet nichts mehr!«
In Lars Stephans Gesicht entstand ein gespielt mitleidiges Lächeln. »Wo ist die Schröder überhaupt?«, fragte er.
»Sie fühlt sich noch nicht kräftig genug. Sie hat eine Bauchspeicheldrüsenentzündung«, erklärte Sybille.
Lars Stephan rollte die Augen. Maren ergänzte: »Deshalb sitzt sie oben bei uns in der Küche und hilft Julia bei einer Collage für Kunst.«
Lars sog hörbar die Luft ein. »Jedenfalls brauchen wir einen Container und noch mehr Leute.« Er griff zum Handy.
Eine Stunde später bot sich ein völlig anderes Bild. Heck hatte über einen Freund aus seinem Handballclub möglich gemacht, dass kurzfristig ein Container für Sperrmüll geliefert wurde. Nachdem der Uhu Hecks Dienstausweis gesehen hatte und ihm angeboten worden war, an einer wichtigen Polizeiaktion teilzunehmen, verwandelte er sich in einen dienstbeflissenen Untergebenen. Brav befolgte er Anweisungen und war mit gewichtiger Miene damit beschäftigt, den Lastwagen mit dem Container in die Einfahrt zu winken. Durch das Treppenhaus bewegte sich eine schwerbeladene Karawane. Gerhard Heck, Ernestine Hoff, Serafettin Gümüstekin, Tobias Hölzinger und Lars Stephan schleppten in Säcken, Kisten und Stapeln Müll nach unten. Frank Günther war ebenfalls mit zwei Mitarbeitern erschienen. Sie trugen ihre üblichen Overalls und reinigten in der Wohnung die Bereiche, die leer geräumt worden waren.
»Mer sollde auf jeden Fall noch emal ganz genau gucke, vielleischd is doch noch was Inderessandes fer uns debei«, raunte Frank Günther den anderen zu, und die nickten verschwörerisch.
Auch Maren und Sybille ließen sich nicht abhalten, weiter mitzuhelfen, obwohl Lars mit Sorge beobachtete, wie blass Marens Haut war und wie dunkel die Ringe unter ihren Augen. Irgendwann war sie plötzlich verschwunden. Lars ging in die Wohnung, um nach ihr zu sehen. Maren schien sich im Bad eingeschlossen zu haben.
»Maren, ist alles okay bei dir?«, rief er vor der Tür.
»Ja«, erwiderte sie gedämpft. Dann hörte er, wie die Dusche aufgedreht wurde. In der Küche fand er Julia. Sie klebte eifrig bunte Papierfetzen auf ein Blatt.
»Wo ist …«, fragte er, und Julia nickte in Richtung der Balkontür. Durch die Gardine sah er die Silhouette der Schröder mit ihrem ausgefransten Dutt und den großen Ringen an den Ohren. Sie stand entspannt über das Geländer gebeugt und beobachtete, was die Karawane unten aus der Haustür trug. In der einen Hand hielt sie eine Zigarette, die sie hin und wieder zum Mund führte. Sie inhalierte genüsslich den Rauch und stieß ihn in kleinen Wolken aus. Das hielt Garfield nicht davon ab, neben ihr in einem Blumenkasten zu sitzen und sich zwischen den Ohren kraulen zu lassen. Stephan ging hinaus auf den Balkon.
Die
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