Das verschwundene Kind
staunst du, was?«
Wenig später befanden sie sich mit den Ben Alhallaks im Vernehmungszimmer.
Stephan kam nicht dazu, seine Arabischkenntnisse anzuwenden, denn alle sprachen Deutsch.
»Wir sind Deutsche«, erklärte Frau Ben Alhallak. »Alle hier geboren.« Sie war es auch, die den Hauptanteil des Gesprächs bestritt. Selbst der sonst nicht auf den Mund gefallene Abdelhamid verhielt sich so still und zurückhaltend wie sein großer Bruder Mohamed. Auf dem Tisch stand die Babyschale mit einem friedlich schlafenden Baby. Frau Ben Alhallak hatte den Reißverschluss des Baby-Overalls geöffnet und die Mütze ausgezogen. Dichte, schwarze Haare bedeckten den kleinen Kopf. Das Baby hatte bei dieser Prozedur eine Schnute gezogen, kurz die dunklen Augen geöffnet, den Kopf zur Seite gedreht und war wieder eingeschlafen.
Ein echtes Baby aus Fleisch und Blut, das atmete und sichtlich zufrieden war. Das zu sehen tat gut, nach all dem, was Stephan in den letzten Tagen erlebt hatte.
»Es ist, damit sie nicht schwitzt hier in diesem warmen Zimmer«, erklärte Frau Ben Alhallak.
Sie öffnete ihren Mantel und setzte sich auf den nächsten Stuhl. Alle nahmen rund um den Tisch Platz. In dem Moment kam Ernestine Hoff dazu.
Sie beugte sich über das Kind und flüsterte: »Was für ein süßes Baby! Und wie brav es schläft!«
Frau Ben Alhallak lächelte wie eine stolze Mutter. »Das war nicht so, als wir sie bekamen. Sie hat viel geweint, denn sie war wund bis auf das rohe Fleisch und hatte oft Bauchweh. Nächtelang haben wir sie abwechselnd herumgetragen.«
Die beiden Söhne nickten bestätigend. Stephan sah lächelnd zu dem Baby, das seine Faust in den Mund geschoben hatte und daran nuckelte. Abdelhamid hatte das ebenfalls beobachtet. Er entnahm einer großen Tasche, die er umgehängt hatte, eine Box, zog einen Schnuller heraus und steckte ihn dem Baby vorsichtig zwischen die Lippen. Mit einem kleinen Schmatzgeräusch sog es den Schnuller in den Mund. Alle lachten leise.
»Erzählen Sie! Wie sind Sie zu dem Baby gekommen?«, bat Stephan.
Frau Ben Alhallaks Augenbrauen zogen sich zusammen. »Bitte, Sie müssen verstehen, Herr Kommissar, wir haben nichts Unrechtes getan. Wir wussten nicht, dass Sie ein Kind suchen. Erst als Abdel heute nach Hause kam und uns erzählte, dass die ermordete Frau in der Domstraße ein Baby hatte, das verschwunden ist, haben wir etwas geahnt. Ich muss ehrlich sagen, so ganz hatte ich die Geschichte von Anfang an nicht geglaubt.«
»Welche Geschichte?«
»Nun, dass die Mutter des Babys eine Drogenabhängige ist, die sich nicht kümmern kann, die aber verhindern will, dass das Jugendamt ihr das Kind wegnimmt, solange sie auf Entzug ist. Für diese Zeitspanne sollten wir uns kümmern. Ich mache so etwas schon lange, ich betreue oft Kinder. Ich habe ein Zertifikat als Tagesmutter. Ich …«
»Schon gut, ich glaube Ihnen das«, unterbrach Stephan. »Wer hat Ihnen das Kind gebracht?«
Frau Ben Alhallak fragte ihren jüngsten Sohn: »Hast du ihm das nicht gesagt?«
Abdel schüttelte stumm den Kopf und sah seine Mutter schuldbewusst an.
Sie wandte sich wieder an Stephan. »Florian Sauer. Er brachte das Baby eines Tages zum Sanitätsdienst mit. Es ging ihm sehr schlecht. Florian erzählte diese Geschichte und fragte, ob wir das Kind vorübergehend aufnehmen könnten. Mohamed rief mich auf dem Handy an, und ich sagte zu. Er brachte die Kleine dann gleich zu uns.« Mohamed nickte bestätigend.
»Florian hat mir die Geschichte glaubhaft vermittelt. Und es passt auch zu ihm. Er ist ziemlich hilfsbereit. Darum dachte ich mir dabei nichts.«
»Wissen Sie etwas genauer, wann das war?«, fragte Hölzinger.
»Am zwölften Oktober«, antwortete Frau Ben Alhallak und erklärte: »Es ist mein Geburtstag, und Mohamed kam mit der Kleinen im Arm.«
Stephan schaute Mohamed an.
»Hat Florian Sauer noch mehr zu dem Kind oder seiner Mutter berichtet. Hat er Namen genannt, Orte, das Geburtsdatum des Kindes?«
»Nein, nur das, was Ihnen meine Mutter gerade gesagt hat. Wir sahen, wie schlecht es der Kleinen ging, und meine Mutter hat sich vor allem darum gekümmert, sie zu versorgen.«
»Hat Florian Sauer Ihnen dafür Geld gegeben?«, fragte Stephan.
Frau Ben Alhallak zögerte. Abdel antwortete schnell für sie: »Nur für Windeln und Essen.«
Von wegen, dachte Stephan. Er konnte sich gut vorstellen, dass der wohlhabende Arztsohn einiges für die Versorgung des Säuglings auf den Tisch geblättert hatte. Warum
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