Das verschwundene Kind
Wärmflasche besser hält, die ich mir in den Rücken gesteckt habe.« Stephan grinste. Heck überging das mit gequälter Miene und fragte: »Wann kommt er?«
»Zehn Uhr habe ich mit ihm ausgemacht«, erklärte Ernestine. »Es war gestern gar nicht so einfach, ihn zu erreichen. Zwei Kollegen aus Düsseldorf leisteten Amtshilfe und wollten ihn dort bei dem Ärztekongress aufsuchen, um ihm die Todesnachricht von seiner Frau zu überbringen. Doch er war nicht da. Ich habe mir dann von einer seiner Arzthelferinnen die Handynummer geben lassen. Es war abgeschaltet. Ich machte es dringend und erzählte ihr, was passiert war. Da rückte sie mit der Adresse von einem Wellnesshotel im Odenwald heraus und flehte mich an, niemandem zu sagen, dass ich das von ihr hätte. Offensichtlich gibt es in der Praxis offene Geheimnisse. Die Odenwälder Kollegen fuhren hin und überbrachten ihm die Nachricht. Sie berichteten mir später, er sei in Damenbegleitung gewesen.«
Heck pfiff durch die Zähne. »Die Welt ist schlecht!«
Das sagt genau der Richtige, dachte Stephan und schielte zu Ernestine, die dicht neben Hecks Schreibtisch auf einem Hocker saß. Heck war heute Morgen Punkt sieben Uhr erschienen und hatte aufmerksam Stephans Bericht über den Vorfall auf der Brücke gelesen. Dann hatte er ihn an Ernestine weitergegeben und Stephan gefühlte tausend Fragen zu den Details gestellt. In gleicher Weise verfuhr er mit Stephans zweitem Bericht über die Rückgabe des Kindes.
»Haben wir schon ein Ergebnis wegen der DNS ?«, fragte er. »Frühestens morgen«, antwortete Ernestine.
»Und das Kind, wo ist das jetzt?«
»Der Notdienst vom allgemeinen sozialen Dienst hat es gestern in einer Pflegefamilie untergebracht, die sie für solche Fälle haben. Sie wollten von mir die Daten des leiblichen Vaters, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen.«
»Hast du sie ihnen gegeben?«, fragte Heck.
»Ja. Spricht etwas dagegen?«
»Eigentlich nicht, oder?«, fragte Heck in Richtung Stephan. Der spürte ein widerstrebendes Gefühl in sich aufsteigen.
»Eigentlich darf der noch gar nichts über das Kind sagen, solange er nicht die Vaterschaft anerkannt und das Sorgerecht bekommen hat. Auch muss ja erst mal durch den DNS -Test bewiesen werden, dass es das richtige Kind ist.«
»Das ist jetzt aber kleinlich«, kritisierte Heck. »Ich denke, es ist das richtige Kind. Und die übrigen Formalien wird das Jugendamt mit Sauer klären. Der Fall ist gelöst!«
»Und was passiert, wenn er das Kind nicht will?«, fragte Ernestine. »Dann kann er es wohl zur Adoption freigeben, oder was meinst du, Lars?«
Stephan zuckte mit den Schultern. »Vermutlich.«
Heck schob seine Kaffeetasse zur Schreibtischkante. »Kannst du mir noch was nachschenken, Tinchen?«
Ernestine griff nach der Thermoskanne. Heck bedankte sich mit einem Lächeln. »So oder so. Für das Kind ist auf jeden Fall gesorgt.«
»Sofern es das richtige Kind ist«, räumte Stephan ein.
»Das wissen wir morgen.« Heck stöhnte. Seine Miene zeigte deutlich, dass das Kapitel Kind für ihn abgeschlossen war. Für Stephan nicht, etwas nagte in ihm, das er selbst noch nicht genau beschreiben konnte.
Anselm Kling wirkte wie immer gehetzt. Er saß mit ihnen im Vernehmungszimmer und trank nervös aus einem Wasserglas. Er hatte die Beileidsbekundungen regungslos entgegengenommen. Dann hatte er sich schildern lassen, wie die Ereignisse auf der Brücke im Einzelnen abgelaufen waren. Stephan berichtete. Die Inhalte des Gesprächs mit Veronika Kling auf dem Brückenbogen ließ er zunächst aus. Ernestine saß mit aufgeklapptem Laptop am Tisch. Immer wieder schielte Dr. Kling zu ihr hin.
»Gibt es denn etwas, das Sie mir vorwerfen, oder warum sitzen Sie hier mit mir wie im Verhör.«
Heck erwiderte verärgert: »Noch sind wir im Stadium der Befragung. Es geht darum, mit Ihrer Hilfe die Umstände, die zum Tod Ihrer Frau führten, zu klären. Sie können natürlich gerne einen Anwalt …«
Dr. Kling winkte ab. Er starrte vor sich auf die Tischplatte. So, wie er dasaß im offenen Mantel und auf der Stuhlkante, hatte man den Eindruck, dass er jeden Augenblick aufspringen und davonrennen wollte. »Eine Puppe, sagen Sie, hat sie ins Wasser geworfen?«
»Haben Sie dafür eine Erklärung?«, fragte Heck.
Dr. Kling nickte. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er unliebsame Gedanken wegwischen.
»Im Grunde genommen muss man sagen, dass Veronikas Verhalten längst pathologisch war.
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