Das verschwundene Kind
mit dabei? Was wollte er? Hatte er die Order, sich in Abdelhamids Nähe zu halten, oder genoss er einfach die Möglichkeit, mit gutem Grund dem Unterricht noch ein bisschen fernzubleiben? Jede Person, der sie auf ihrem Weg begegneten – einem Hausmeister, zwei Lehrkräften, einigen Schülern –, schien mit Abdelhamid gut bekannt zu sein. Jedes Mal hob er seine Micky-Maus-Pfote, sagte: Tag, Herr Wendt – hallo, Frau Reinhardt – hey, Leon, was geht? Und alle grüßten mit undurchdringlicher Mimik zurück. Der Blick, mit dem die diensthabende Sekretärin den eintretenden Abdelhamid betrachtete, zeigte ebenfalls, dass ihr dieser Schüler nicht fremd war. Sie fragte nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, nach seinem Anliegen, sondern wandte sich direkt an Stephan und Hölzinger.
»Was hat er angestellt?«
Abdelhamid antwortete sofort: »Gar nichts, ich helfe nur.«
Der Gesichtsausdruck der Sekretärin blieb unverändert. »Möchten Sie den Schulleiter sprechen, oder soll ich gleich seine Eltern anrufen?«
*
Als sie nach dem Gespräch mit Erkan Onurhan die Schule verließen, lief ihnen erneut Abdelhamid vor die Füße. Treuherzig erkundigte er sich, ob sie mit der Zeugenbefragung zufrieden gewesen seien, und verabschiedete sich schließlich höflich mit den Worten: »Bis zum nächsten Mal. Ich helfe immer gern. Und übrigens, Sie können gerne Abdel zu mir sagen.«
Er streckte Lars Stephan kumpelhaft die Hand entgegen. Dieser schlug nicht ein, sondern sagte: »Lass es gut sein, Junge, es reicht jetzt!«
Abdelhamid blieb unbeeindruckt und schloss sich dann einigen Mitschülern an, die die Szene misstrauisch beäugt hatten und die Polizisten weiterhin mit vorsichtiger Neugier musterten.
Hölzinger zupfte Stephan am Ärmel und deutete auf einen Schüler, der fernab der anderen allein seines Weges ging. Jetzt erkannte er ihn, es war Tim Martens. Er trug jetzt wieder eine Jacke.
»Hattest du eigentlich auch den Eindruck, dass dieser Erkan längst darüber informiert war, dass wir ihn heute befragen wollten«, argwöhnte Hölzinger.
Lars Stephan nickte. »Über Handy ist nun mal alles möglich, und diesem Abdelhamid traue ich zu, dass er ihn unter unseren Augen benachrichtigt hat.«
In der Tat war dem Jungen nicht die geringste Überraschung anzumerken gewesen. Als der Schulleiter mit ihnen zu einem Klassenraum gegangen war, um Erkan aufzurufen, war dieser sofort beim Öffnen der Klassenzimmertür aufgestanden und zu ihnen gekommen.
Dann, in einem Nebenraum, hatte er die Antworten mechanisch aufgesagt: Nein, er habe seine Schwester in letzter Zeit nicht besucht. Er kenne die Wohnung in der Domstraße, sei aber ewig nicht mehr dort gewesen. Dass sie ein Baby gehabt haben sollte, wusste er nicht.
»Aber das haben wir doch alles schon gesagt!« Bei dem »wir« horchte Lars Stephan auf, und Erkan rief aufgebracht: »Glauben Sie, wir reden in der Familie nicht miteinander?«
»Miteinander reden ist das eine, Aussagen absprechen ist das andere«, maßregelte Hölzinger.
Erkans Miene blieb kühl und scheinbar desinteressiert.
Hölzinger ließ sich davon provozieren. »Ich erzähle dir jetzt eine andere Geschichte«, fuhr er fort: »Ihr wusstet alle genau, dass deine Schwester ein uneheliches Kind erwartete. Das hat die Ehre der Familie gekränkt und bedeutete das Todesurteil für sie. Es wäre nicht das erste Mal, dass so was vorkommt bei Leuten wie euch!«
Erkans dunkle Augen funkelten. Man sah, wie seine Kiefermuskeln arbeiteten. Er zog an seinen Fingern, dass die Gelenke knackten. Dann sagte er mühsam beherrscht: »Und Leute wie ihr denken immer nur, dass wir schuld sind. Wir waren das nicht, Mann! Niemand aus meiner Familie! Aber Leute wie ihr glaubt uns ja nicht. Für euch sind immer wir die Schuldigen! Scheißdeutsche!«
Hölzingers Hand schnellte vor und packte Erkan am Kragen. »Sei vorsichtig mit dem, was du sagst! Beamtenbeleidigung kann teuer werden!«
Erkan trat einen Schritt zurück, und Hölzinger ließ los. »Ey, ihr beleidigt mich auch mit dem, was ihr da für Scheiße labert!«
Erkan und Hölzinger fixierten einander wie Raubtiere in der Arena. Lars Stephan trat zwischen die beiden und bemühte sich um einen ruhigen Ton.
»Es ist für uns ein denkbares Motiv, dem wir nachgehen müssen. Und wenn du so fest davon überzeugt bist, dass es anders war, wäre es schön, wenn du nicht so einsilbig wärst, sondern mehr kooperieren würdest.«
Erkan verschränkte die Arme vor der Brust
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