Das verschwundene Kind
Flair umgibt, den Landadel zu versorgen, dachte Stephan. Das Haus war spärlich mit hellen Möbeln und Accessoires aus Naturmaterialien in einem modernen Landhausstil eingerichtet. Florian Sauer ließ seine Besucher auf hellen Ledersofas im Wohnzimmer Platz nehmen, von wo aus man durch bodentiefe, große Fenster einen Blick in den gut eingewachsenen, herbstlichen Garten hatte. Artig bot Florian Tee an, und Heck nahm freundlich nickend an. Heck zeigte einmal mehr seine Qualitäten als alter Fuchs. Zunächst schuf er durch das Teetrinken und das Gespräch über den Garten, Florians Sanitäterausbildung und den Erfolg seines Medizinstudiums eine entspannte Atmosphäre. Ein wenig erzählte er auch von den eigenen Kindern und verwandelte den Polizisten in einen gutmütigen Papi. »Der Große studiert Jura, Strafrecht«, und so weiter. Stephan kannte die Geschichte inzwischen. Dann fiel Heck ganz nebenbei die Frage ein, warum Florian überhaupt eine Wohnung in der Domstraße benötige, wenn er doch so gute Möglichkeiten in diesem wunderschönen, großen Elternhaus hätte.
Stephan glaubte wahrzunehmen, dass beim Stichwort »Domstraße« ein Schatten über das Gesicht des Jungen huschte. Dann berichtete er von einer Kapitalanlage des Vaters in unsicheren Zeiten. Betongold, nannte er das. Auch sei es für einen erwachsenen Sohn mal ganz gut, eine eigene Wohnung zu haben und für sich selbst zu sorgen. Stephan fiel dazu der verwelkte Basilikumtopf aus Florian Sauers Küche ein.
Unvermittelt fragte Heck plötzlich: »Kannten Sie eigentlich Özlem Onurhan?«
Florian Sauers Gesicht überzog sich mit einer tiefen Röte. »Sie meinen die Türkin, der die Wohnung unter mir in der Domstraße gehört?«
Stephan runzelte die Stirn und tauschte einen unauffälligen Blick mit Heck. War das die richtige Frage? Hätte er nicht vielmehr fragen müssen, ob das der Name der ermordeten Frau sei?
»Sie ist ermordet worden«, ergänzte Heck.
Florian Sauers Gesicht brannte, sonst zeigte er keine Reaktion.
»Kannten Sie sie näher?«, fügte Heck hinzu.
Florian Sauers knochiger Adamsapfel hüpfte. »Nur vom Sehen«, antwortete er und schaute an Heck vorbei hinaus in den Garten. Heck sah Lars Stephan auffordernd an, und Stephan wusste, was das bedeutete. Es ging um das Spiel guter Polizist, böser Polizist. Heck hatte bereits die Rolle des guten Gesetzeshüters besetzt, jetzt lag es an Stephan, eine schärfere Gangart vorzugeben.
»Wie erklären Sie sich, dass sich in der Wohnung Onurhan ein Schlüssel zu Ihrer Wohnung befand?«
»Zu meiner Wohnung? Den haben Sie gefunden? Tja, das ist länger her. Ich war im Urlaub, und sie bekam den Schlüssel wegen Blumen gießen, Briefkasten leeren und so.«
»Da haben Sie aber viel Vertrauen, wenn Sie den Schlüssel jemandem überlassen, den Sie kaum kennen.«
Von Florian Sauer kam dazu kein Kommentar. Er starrte wieder hinaus in den Garten. Wirkten seine Augen glasig, oder lag das am Licht in diesem hellen Raum.
»Können Sie uns sagen, was Sie am Freitag, den fünften Oktober, gemacht haben?«, stellte Stephan die übliche Frage.
Der Adamsapfel hüpfte wieder. Die zarten, knochigen Finger verschränkten sich ineinander. »Vormittags war ich in der Uni. Mittags die große Vorlesung von zwölf bis dreizehn Uhr. Danach war ich kurz hier bei meinen Eltern zum Kaffee. Dann von sechzehn Uhr bis dreiundzwanzig Uhr hatte ich Dienst beim Roten Kreuz.«
»Na, das ist ja sehr genau«, lobte Heck. »Ein Gedächtnis wie ein Elefant, obwohl das ja doch schon ein Weilchen her ist. Mir wäre nicht so schnell eingefallen, was ich an dem Tag gemacht habe.«
Florian Sauer hatte die Spitze bemerkt. Er schaute auf und begegnete mit regungsloser Miene Hecks Blick. Die Röte aus seinem Gesicht war verschwunden und hatte einer milchigen Blässe Platz gemacht, die seine Sommersprossen wie Stockschimmelflecken auf einer weißen Tapete aussehen ließ.
»Eine kleine Bitte hätten wir noch an Sie«, fuhr Heck in bemüht neutralem Ton fort. Er kramte dabei ein verschlossenes Glasröhrchen aus seiner Mappe hervor. Als Medizinstudent wusste Florian Sauer auf Anhieb, was das war, denn er zuckte sichtbar zusammen.
»Verdächtigen Sie mich, die Frau ermordet zu haben?«, fragte er mit spröder Stimme.
»Nein, nein«, wiegelte Heck in väterlichem Ton ab. »Das ist reine Routine. Wir müssen Spuren sammeln, um manche Dinge ausschließen zu können. Sehen Sie es andersherum. Es beweist, dass Sie das nicht waren.«
»Ich war
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