Das verschwundene Kind
Hast wohl öfter mit der Polizei zu tun?«
»Schon. Aber immer nur als Zeuge. Ich helfe gern.«
Hölzinger stöhnte auf. Stephan hatte beschlossen, Micky Maus einfach zu ignorieren, und wandte sich an den anderen Jungen. »Wie heißt du?«
»Tim. Tim Martens. Ich gehe mit ihm in eine Klasse, auch in die neun c.«
»Geht ihr in diese Schule, da vorn Richtung Kaiserlei?«
Beide nickten artig.
Stephan und Hölzinger tauschten Blicke aus. »Kennt ihr einen namens Erkan Onurhan?« Keine Reaktion. Hölzinger ergänzte: »Wir waren nämlich gerade auf dem Weg zu ihm. Wir haben die Information, dass er auf eure Schule geht. Klasse neun c. Merkwürdig, wenn ihr ihn nicht kennt.«
»Was wollen Sie von ihm?«, fragte Abdelhamid.
»Nichts Schlimmes, nur als Zeugen befragen«, erklärte Stephan, »vielleicht hilft er ja genauso gern wie du.«
Micky Maus überhörte die Spitze gelassen und meinte: »Ach so, wegen der toten Frau von dort drüben.« Abdelhamid deutete mit einer lässigen Kopfbewegung in Richtung der Parkplätze, die sich an den breiten Bürgersteig anschlossen. Jetzt erst erkannte Stephan, dass an dieser Stelle, von der Berliner Straße aus gut sichtbar, die Domstraße in spitzem Winkel abzweigte und er den großen Torbogen des Tathauses vis-à-vis deutlich sehen konnte. Insgeheim beschloss er, sich demnächst einem Crash-Kurs bezüglich der Ortskenntnisse in Offenbach zu unterziehen. Er schaute auf seine Armbanduhr.
»Vierzehn Uhr. Treffen wir da euren Kumpel überhaupt noch in der Schule?«
Abdelhamid nickte: »Klar, wir haben noch Nachmittagsunterricht. Wir sind Ganztagsschule.«
»Und was macht ihr dann hier?«, fragte Hölzinger und erhielt außer einem starren Blick keine Antwort. Einige Jugendliche lösten sich aus dem Kreis der Zuschauer und entfernten sich zügig.
»Wann fängt der Unterricht an?«, erkundigte sich Stephan.
»Vor zehn Minuten«, erklärte Abdelhamid lapidar.
»Na, dann aber los – kommt, steigt ein«, sagte Stephan und öffnete einladend die hintere Wagentür.
Tim zögerte noch, doch Abdelhamid schob ihn vorwärts: »Ey, Mann, steig ein, die fahren uns in die Schule, ist doch echt krass.«
Bevor jedoch Stephan und Hölzinger einsteigen konnten, fuhr ein Streifenwagen scharf vor ihren Kühler. Warnblinkanlage und Blaulicht wurden eingeschaltet. Die Menge der Zuschauer wuchs wieder an. Ein uniformierter Mann und eine uniformierte Frau stiegen aus.
»Sie können hier nicht stehen! Sie blockieren den Fußgängerüberweg«, rief der Polizist, während er sich ihrem Fahrzeug näherte.
Abdelhamid betätigte den Fensterheber und rief: »Schönen Tag, lange nicht gesehen!«
Der Polizist erstarrte. Die Polizistin beugte sich hinunter zu Abdelhamids Fenster.
»Hey, Abdel, was machst du denn hier?«, fragte sie erstaunt und erhielt prompt die Erklärung: »Die haben uns gerade hier aufgegabelt und bringen uns in die Schule.«
Die Polizistin richtete sich auf, musterte Stephan und Hölzinger mit misstrauischem Blick und fragte scharf: »Was wollen Sie von den beiden Jungen?«
Bevor Stephan seine Verblüffung überwunden hatte, antwortete Abdelhamid: »Das ist schon korrekt. Die beiden sind auch Polizisten. Kripo im Einsatz. Die haben nur vergessen, ihr Blaulicht aufzusetzen.«
Die beiden Uniformierten schienen noch nicht endgültig überzeugt. Sie musterten ihre vermeintlichen Kollegen mit finsteren Blicken.
Stephan und Hölzinger blieb nichts anderes übrig, als ein entschuldigendes Grinsen aufzusetzen und ihre Ausweise zu zeigen, die eingehend studiert wurden. Stephan spürte förmlich Abdelhamids genüssliche Knopfaugenblicke im Rücken.
»In Ordnung«, sagte die Polizistin schließlich, als sie Stephan den Ausweis zurückreichte.
In der Schule angekommen, zeigte sich Abdelhamid ungefragt als hilfreicher Fremdenführer. Nachdem er auf ein Schild am Schuleingang hingewiesen hatte, das verlangte, dass schulfremde Besucher sich im Sekretariat anzumelden hätten, führte Abdelhamid sie durch verwinkelte Gänge dorthin. In der Luft lag ein Mief aus Suppenküche und ungelüfteter Umkleidekabine. Ein Geruch, der Stephan sofort in finstere Zeiten seines Schülerlebens zurückkatapultierte. Er kam sich fehl am Platz vor und folgte dem selbstbewusst vorauseilenden Abdelhamid. Hinter sich hörte er Hölzingers quietschenden Turnschuhschritt auf dem Linoleum und das leichte Klingeln des Schlüsselbundes, das Tim mit einem langen Band am Hosenbund trug. Warum war Tim eigentlich noch
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