Das verschwundene Kind
Staubsaugerbeutel aufgeschnitten und suche meine Brillantohrstecker. Ich habe die ganze Wohnung danach abgesucht. Der Staubsauger ist der letzte Ort, wo sie noch sein könnten!«
Wenig später saß er mit Maren, deren Verzweiflung stetig wuchs, auf dem Boden und wühlte im Dreck. Lars hatte sich nach diesem Arbeitstag den Abend deutlich anders vorgestellt. Er konnte Marens Aufgeregtheit nicht teilen. Bedeutete Frauen so ein dämlicher Schmuck wirklich so viel, dass sie eine Fahndung inszenieren mussten, als ginge es um Leben und Tod?
Gegen Ende der Suche rückte er mit dem Versprechen heraus, ihr neue Ohrstecker zu schenken, viel schönere. Wenn sie nur endlich mit dieser schrecklichen Beschäftigung aufhören könnten, fügte er in Gedanken hinzu und war sich darüber im Klaren, dass er für diesen Feierabend einen hohen Preis zahlen würde. Doch Maren ließ sich nicht beruhigen, sie wollte diese Ohrstecker finden und keine anderen. Lars’ Laune war längst im Minusbereich angekommen. Womöglich rückte sie noch damit heraus, dass diese verdammten Ohrstecker eine wichtige Erinnerung an schöne Zeiten mit ihrem Ex waren, dann würde er auf der Stelle gehen. Vor seinem geistigen Auge entstand bereits der nicht unangenehme Gedanke, wie er diese Stätte verlassen, sich in seine Wohnung begeben und mit einer Fertigpizza und einem kühlen Bier vor den Fernseher setzen würde.
Marens Verzweiflung war nicht mehr normal. Sie schluchzte heftig. Zunächst konnte er gar nicht verstehen, was sie meinte, dann jedoch drangen ihre Worte allmählich in sein Bewusstsein. Es ging ihr gar nicht um die Ohrstecker. Es ging ihr um das Verschwinden als solches. Dies sei ein weiterer Beweis, dass es jemanden gab, der sich in ihrer Wohnung zu schaffen machte. Mit dem schönen, selbst bemalten Seidentuch hatte alles angefangen. Dann immer wieder die laufende Klospülung. Die nicht verschlossene Eingangstür, der Fernseher auf Stand-by und dann diese Merkwürdigkeit mit dem Katzenfutter im Bücherregal. Niemals würde sie so etwas Abwegiges tun! Maren erwartete, dass Lars wieder abwiegeln würde. Doch zu ihrem Erstaunen hörte er ihr aufmerksam zu. Schließlich sah er blitzschnell auf seine Uhr.
»Die Baumärkte haben noch geöffnet. Ich fahre und hole dir ein anderes Türschloss und baue es heute noch ein.«
»So was kannst du?«, fragte sie schluchzend.
»Ja«, bestätigte er und kam sich vor wie Humphrey Bogart in
Casablanca
.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
Er verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln und griff nach den Schlüsseln seines Fahrradschlosses.
[home]
Dienstag, der 16. Oktober
D urch einen Telefonanruf hatte Heck herausgefunden, dass sich Florian Sauer zurzeit in seinem Elternhaus in der Buchhügelallee aufhielt, und ihren Besuch angekündigt. Nun standen Heck und Stephan vor einer modernen Eingangstür aus glattem, grauem Stahl, an der ein langer Edelstahlstab als Griffstange angebracht war. Rechts und links der Tür befand sich jeweils ein Band von milchverglasten Kassettenfenstern, so dass man den melodischen Ton der Türglocke drinnen zwar hören, aber nicht erkennen konnte, ob im Haus jemand reagierte.
Stephan blickte an der frisch renovierten Fassade des einstöckigen Gebäudes hinauf. Er war sich sicher, hinter einem Fenster im ersten Stock das leichte Schwanken eines Innenrollos bemerkt zu haben. Wenig später wurde die schwere Tür mit sanftem Gleiten geöffnet. Vor ihnen stand ein zart gebauter Junge mit welligem, rostrotem Haar in einem Brave-Buben-Schnitt mit Seitenscheitel. Auf der leicht rosigen Gesichtshaut bildete sich ein Sternenhimmel voller Sommersprossen ab. Die Stupsnase verstärkte den jungenhaften Eindruck noch.
Beinahe hätte Stephan gefragt: »Hallo, ist dein großer Bruder da?«, als die spärlichen Barthaare auf Oberlippe und Kinn ihn dazu veranlassten, die Altersschätzung doch etwas höher anzusetzen. »Florian Sauer?«, erkundigte sich Heck. Der junge Mann nickte. »Wir hatten gerade telefoniert«, erklärte Heck und zückte seinen Dienstausweis. Stephan tat es ihm nach.
Florian Sauers blassblaue Augen huschten kurz über die Dokumente, dann trat er einen Schritt zurück in die Eingangshalle. Stephans Blick fiel auf Florians Füße, die in buntgemusterten, handgestrickten Socken steckten. Die Röhrenjeans betonte seine mageren Beine. Er trug ein ordentlich gebügeltes, kariertes Hemd und eine dunkle Lederweste. Alles teure Markenkleidung von einem Anbieter, der sich mit dem
Weitere Kostenlose Bücher