Das verschwundene Kind
regungslos stehen blieb. Vor ihm auf dem breiten Gehweg lag eine gekrümmte Gestalt, die mühsam versuchte, auf die Beine zu kommen. Inzwischen war auch Hölzinger eingetroffen und half dem Opfer, einem etwa fünfzehnjährigen, etwas schmächtig gebauten Jungen, aufzustehen. Die ausgeleierten Jeans mit hängendem Hosenboden betonten seine schwächliche Erscheinung noch. Auch schlotterte der Junge vor Kälte in der frischen Herbstluft. Sein knochiger Oberkörper war nur mit einem dünnen, ärmellosen Hemdchen bekleidet, das bei anderen als »Muskelshirt« gegolten hätte, hier aber eher wirkte wie ein schlaffes Fähnchen. Stephan hatte bereits die Situation gedeutet und verstärkte den Druck auf den Arm seines Gefangenen, so dass dieser aufheulend tiefer in die Knie ging.
»Gib es zu, ihr habt dem Jungen hier gerade die Jacke gerippt!«, fauchte er.
Ein weiterer Schmerzensschrei ertönte. »Ey, Mann, lassen Sie mich los. Ich hab nichts getan.«
»Das sagt ihr alle«, fuhr ihn Hölzinger in schnarrendem Polizistenton an und wandte sich mit deutlich sanfterer Stimme dem anderen Jungen zu: »Komm, sag uns, was er hier und seine Freunde dir angetan haben!«
Der schmächtige Junge schob die geschwollene Unterlippe vor und musterte den anderen mit düsterem Blick. Der stöhnte auf, weil Stephan den Druck auf seinen Arm verstärkte. »Ey, Mann, sag denen, dass ich nichts gemacht habe! Sag denen, dass das hier bloß ein Spaß war. Los, sag schon!«
Inzwischen hatten sich rundherum etliche Schaulustige versammelt, unter anderem auch Jugendliche, und Stephan war sich nicht sicher, ob nicht auch die beiden Geflohenen wieder zurückgekehrt waren und sich mit harmloser Miene zu den anderen gestellt hatten.
Der zarte Junge griff sich mit gespreizten Fingern in seine schmutzig blonden, leicht gewellten Haare. Dann sagte er kaum hörbar: »Es stimmt. Er hat nichts gemacht. Es war nur ein Spaß.«
Hölzinger und Stephan tauschten misstrauische Blicke aus, Stephan lockerte seinen Griff. Die Gestalt vor ihm richtete sich auf. Der Junge war etwas kompakter gebaut und mit knapp einem Meter sechzig um etwa einen Kopf kleiner als sein vermeintliches Opfer. Die drahtigen, schwarzen Haare saßen helmartig auf seinem Kopf. Der dichte Pony verlief in der Mitte der Stirn mit einer Spitze zur Nasenwurzel hin. Lars Stephans Phantasie ergänzte über dem stupsnasigen Gesicht mit den kecken Knopfaugen ein großes, schwarzes Ohrenpaar. Sich diese Micky Maus als Gewalttäter vorzustellen, fiel nun auch ihm schwer. Er gab den Arm des Jungen frei. Der straffte die Schultern. Einen Augenblick zuckte so etwas wie ein zufriedenes Grinsen über sein Mausgesicht, dann blickte er in Richtung des vermeintlichen Opfers, das die Augen niederschlug und in sich zusammensank. Für Stephan eindeutige Zeichen, dass Micky Maus doch nicht ganz so harmlos war, wie er tat.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte Micky Maus betont gelangweilt.
»Nicht, bevor wir eure Personalien haben«, erwiderte Hölzinger. Mit einer gelassenen Handbewegung fasste Micky Maus in seine Brusttasche und reichte Lars Stephan einen Schülerausweis.
»Und du?«, fragte Stephan das Opfer und streckte die Hand aus.
»Hab ich nicht«, sagte der Junge leise, »ist in meiner Jacke.«
»Aha, und wo ist deine Jacke?«, schnarrte Hölzinger.
Der Junge biss sich auf die blutverkrusteten Lippen. »Die hat er in der Schule gelassen. Ihm war zu warm«, erklärte Micky Maus, und der andere nickte bestätigend.
»Ja, in der Schule, mir war zu warm«, bestätigte er schlotternd.
Stephan schüttelte den Kopf und begutachtete den Ausweis in seiner Hand. Er sog hörbar die Luft ein und meinte: »Hör mir mal gut zu, Abdelhamid Ben Alhallak, ich glaube dir kein Wort von dem, was du erzählst. Ich bleibe dabei, du und deine Freunde, ihr habt ihn hier überfallen und seine Jacke gerippt. Irgendwie habt ihr ihn im Griff, und deshalb schützt er euch jetzt.«
Micky Maus’ Gesicht blieb ungerührt. »Dann meinen Sie das halt, aber so war es nicht. Aussage gegen Aussage, können wir jetzt gehen?«
Stephans Blick wurde kalt und saugte sich an Micky Maus’ schwarzen Knopfaugen fest. Doch die hielten stand. »Wer sind Sie überhaupt? Können Sie sich denn selber ausweisen?«, forderte der Junge frech.
»Sachte, sachte, Junge«, zischte Stephan. »Wir sind die Polizei.«
»Ha, ha, das hat ja inzwischen jeder gemerkt, aber Sie müssen sich auch ausweisen!«
»Schön, dass du die Regeln so gut kennst.
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