Das verschwundene Kind
nicht direkt anschaut.«
»Woher weißt du denn das?«
Hölzinger holte tief Luft. Dann erklärte er: »Wenn man in einer Stadt wie Offenbach arbeitet, in der so viele Kulturen gemeinsam leben, tut man gut daran, sich für ihre Sitten und Riten zu interessieren, sonst kommt es schnell zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen, wie man an deinem Beispiel sehen kann.«
»Hört, hört, Kollege, das sind ja ganz neue Töne!«, lobte Stephan.
*
Feierabend. Lars Stephan stellte sein Rad im Hof von Marens Haus ab. Im Treppenflur schlängelte er sich zwischen zwei Kinderwagen und einem Dreirad hindurch, die mit Fahrradschlössern an das Geländer gekettet waren. Eine zarte Berührung musste das Rädchen in Bewegung gesetzt haben, jedenfalls schlug die Lenkstange hart gegen Stephans Schienbein. Er kam ins Taumeln und trat in einen Eimer mit Sandspielzeug, der auf dem Treppenabsatz stand, umkippte und den Inhalt laut polternd über die Stufen verteilte. Stephan griff fluchend nach dem Geländer, sammelte alles wieder ein und fragte sich, ob es normal war, dass kleine Kinder schon so viel Kerschel besitzen mussten. Er rieb sich das Schienbein und lief wie ein verwundeter Löwe, der sich nach der Stille seiner Höhle sehnt, die Stufen zu Marens Wohnung hinauf. Im Wohnzimmer fand er alles andere als das ersehnte Bild vor. Rundherum auf den Sitzmöbeln und dem Boden tummelte sich eine unübersichtliche Schar großer und kleiner Menschen, von denen sich die großen eindeutig als weiblich zuordnen ließen. Darauf verwies unverkennbar eine entblößte Brust, an der saugend ein kleines, schwarzhaariges Baby hing, das seine Fingerchen immer wieder in das weiche Fleisch krallte. Eine andere Frau saß im Schneidersitz auf dem Teppich und baute mit einem Kleinkind einen Turm aus Bauklötzen. Die Baumeisterin hatte kurzgeschnittenes, rotbraunes Haar, eine schmale Brille mit breitem, dunklem Hornrand im Nana-Mouskouri-Look und wurde ihm von der Frau, die neben dem Tisch stand und eine Kaffeekanne in der Hand hielt, als »das ist meine Kollegin Vera Schneck-Walz, und das ist ihre Freundin Christine Schneider-Dennhardt mit ihrem Baby« vorgestellt.
Langsam erhielt Stephan einen Überblick. Die mit der Kaffeekanne war Maren. Den Namen Vera Schneck-Walz hatte sie ihm gegenüber schon einmal erwähnt und die andere … Er wagte gar nicht hinzusehen, doch im Augenwinkel bemerkte er ein kleines Plopp, mit dem die zuletzt Genannte den Säugling von seiner Quelle trennte, was ein herzhaftes Wimmern zur Folge hatte. Ein Pullover wurde lieblos über die dralle Brust gezerrt. Jetzt wagte Stephan, die Frau anzuschauen, die ihm ein pausbackiges, rotglühendes Gesicht unter einem Wust wilder, rostblonder Locken zuwandte. Ein wenig störte die streberhafte Brille mit goldenem Metallgestell den Eindruck, dass diese Frau bei jeder Werbeaktion für Mutterglück und gesundes Leben ein absoluter Hingucker gewesen wäre. Die Anzahl der Kinder im Raum konnte Stephan noch nicht genau überblicken. Gefühlt waren es zwanzig. Zählbar waren sie deshalb nicht, weil sie sich ständig in Bewegung befanden. Das greinende Kleine war inzwischen mit einem Schnuller still gestöpselt worden. Maren schien über allem zu schweben und war tatsächlich in der Lage, in dem Gewusel einzelne Kinder auszumachen.
Sie stellte vor: »Das sind Veras Kinder, der kleine Paul und die zweijährige Charlotte. Hier auf Christines Arm, das ist die kleine Marlene, erst acht Wochen alt, und da drüben ist Karl-Friedrich. Er ist drei Jahre alt und unser Ältester hier.«
Stephan runzelte die Stirn. Nur vier? Kaum zu glauben.
In Lars Stephan war längst wieder die Vision von dem kühlen Bier und der Fertigpizza in seinen eigenen vier Wänden entstanden, und er bastelte an einem passenden Abgang, als er hörte, dass Maren ihn vorstellte.
»Ja, das ist mein Freund, Lars Stephan.« Die Augen der Frauen taxierten ihn eingehend.
Er versuchte eine Art Lächeln und wusste, dass er schon längst verloren hatte, weil seine Miene vorhin beim Eintritt in das Wohnzimmer allzu deutlich Feindalarm signalisiert hatte.
»Tja, dann will ich den gemütlichen Nachmittag nicht weiter stören und gehe mal wieder«, sagte er und versuchte den Abgang. Doch aus vielen Mündern ertönte Protestgeschrei. Nein, die Frauen würden doch ohnehin gleich gehen, die Kinder mussten bald ins Bett, und er solle sich ruhig setzen, es sei auch noch Kuchen da und Kaffee. Maren hob die Kanne in sein Blickfeld, und
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