Das verschwundene Kind
Park gehen.«
Sie nahmen auf einer Sitzgelegenheit mit Blick auf den Nordflügel des Büsing-Palais Platz. Die nachmittägliche Herbstsonne schien blass und mild und entzündete einige Plusterhärchen, die sich aus Hölzingers Frisur selbständig gemacht hatten, zu einem feurigen Schein um sein sanftmütiges Gesicht. Der Junge ist nicht mehr von dieser Welt, dachte Stephan und empfand wachsende Sympathie für seinen Kollegen. Es stand ihm gut, dass ihm mit der Auflösung seiner strengen Gelfrisur auch die demonstrierte Coolness abhandengekommen war.
Hölzinger holte tief Luft und versicherte sich, dass niemand in Hörweite war. Dann begann er zögerlich – nicht mehr in diesem schnarrenden Polizeiton, sondern sehr moderat: »Also, Sümeyye hat, ehem, Sümeyye Onurhan hat sich mir anvertraut, und ich habe ihr zugesichert, dass es keine größeren rechtlichen Konsequenzen für sie und ihre Familie haben wird. Ich weiß, das hätte ich nicht tun dürfen, aber ich denke eigentlich, dass es – äh – so etwas wie eine Nothilfe war, die sie begangen haben. Um es erst einmal kurz zu sagen: Die Tote ist nicht Özlem Onurhan, sondern Hatice Ciftci. Özlem Onurhan heißt jetzt Özlem Peters und wohnt in Frankfurt.«
Stephan sog hörbar die Luft ein. In Gedanken sah er zwei Geldscheine, die kleine Flügelchen bekamen und sich ins Blaue davonmachten. Hölzinger beobachtete seinen Kollegen vorsichtig von der Seite. Eigentlich hatte er eine strenge Zurechtweisung erwartet, doch Stephan wirkte erstaunlich ruhig, also fuhr Hölzinger fort.
»Ich erkläre jetzt die Zusammenhänge: Eine entfernte Cousine, namens Hatice Ciftci, hat vor zwei Jahren verzweifelt bei Özlem und Sümeyye um Hilfe gebeten. Hatice wohnte früher in Frankfurt, war dort auch zur Schule gegangen und dann mit ihrer Familie nach Bonn umgezogen. Ihr Vater war anfangs genauso wie der Vater Onurhan ein gemäßigter, nicht strenggläubiger Moslem. Allerdings hatte er sich in Bonn Leuten angeschlossen, die ihn fundamentalistisch prägten. Die hatten ihm auch die größere Wohnung und einen besseren Arbeitsplatz besorgt. Scheint eine Art Netzwerk dort zu existieren, das müssten wir mal mit dem Staatsschutz abklären. Jedenfalls glaubte Hatices Vater, dass er vor diesen Leuten bestehen müsste. Er hatte große Sorge, seine Ehre zu verlieren, und begann, seine Frau und die Töchter zu zwingen, genauso strenggläubig zu werden wie er. Die Frau und die anderen Kinder fügten sich. Hatice, die Älteste, nicht. Sie war schon viel zu sehr hier verwurzelt, hatte Freunde, einen guten Schulabschluss und eine Ausbildungsstelle als Arzthelferin. Der Vater beschimpfte sie als schlechtes Mädchen, das die Ehre der Familie beschmutzt, und schlug sie. Immer häufiger verbrachte sie die Nacht bei Freunden, floh ins Frauenhaus, aber wirklich helfen konnte ihr niemand. Bei einer Urlaubsreise der Familie in die Türkei sollte sie mit einem Cousin verheiratet werden. Jemand verriet ihr den Plan ihres Vaters, und sie flüchtete auf dem Weg zum Bahnhof, schlug sich nach Offenbach durch und stand eines Tages vor Özlems Tür in der Domstraße. Özlem hatte die Wohnung von ihrem damaligen Verlobten, einem Immobilienmakler, günstig gekauft. Da Özlem vorhatte, demnächst zu heiraten und mit ihrem Mann in ein Reihenhaus in Frankfurt zu ziehen, kam sie auf die Idee, ihren alten Personalausweis als verloren zu melden und Hatice in der Offenbacher Wohnung unter ihrem Namen leben zu lassen. Das ging auch eine Weile gut. Den Nachbarn fiel das nicht auf, denn sowohl Özlem, Sümeyye als auch Hatice trugen Kopftücher, wenn sie das Haus betraten oder verließen. Hatice fand sogar Arbeit bei Dr. Kling, der es nicht so genau nahm mit den Referenzen. Ihm genügten die Zeugniskopien von Özlem, um sie auf Minijob-Basis einzustellen. Als Hatice allerdings eines Tages glaubte, dort in der Sprechstunde einen ihrer Verwandten entdeckt zu haben, ging sie nicht mehr hin. Sie jobbte als Kellnerin, Kassiererin in Supermärkten oder als Babysitterin, wechselte oft die Arbeitsstellen, denn immer wieder glaubte sie sich verfolgt.«
Stephan unterbrach. »Damit ist erklärt, warum wir keinerlei Papiere fanden und sie ihre Handtasche und ihr Bargeld in der Wohnung versteckt hat. Die Frage ist nur, ob man mit diesen Jobs so viel verdienen kann, wie wir gefunden haben.«
Hölzinger nickte bestätigend. »Vielleicht war es sogar noch mehr Geld, schließlich hatten wir ja den Eindruck, dass jemand in der
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