Das verschwundene Kind
Wohnung sorgfältig aufgeräumt hatte. Vielleicht hat er nicht alle Verstecke gefunden?«
»Möglich«, sagte Stephan. »Konntest du noch mehr erfahren?«
Hölzinger fuhr fort: »Sümeyye und Özlem versuchten, herauszufinden, ob wirklich einige Cousins und der Vater von Hatice in Offenbach aufgetaucht waren, um nach ihr zu suchen. Doch sie konnten nichts dergleichen feststellen. Seit einigen Monaten gab es eine Veränderung. Hatice wollte plötzlich nicht mehr, dass Sümeyye und Özlem zu ihr in die Domstraße zu Besuch kommen. Aber so ganz vertreiben ließen sie sich nicht, schließlich gehörte die Wohnung Özlem, und die hatte Sümeyye versprochen, dass sie sich dort aufhalten könnte, wenn sie mal Ruhe vor der Familie brauchte. Sümeyye ärgerte sich über Hatices undankbares Verhalten und auch, dass dies auf Kosten ihrer eigenen Unabhängigkeit gehen sollte. Du musst wissen, Sümeyye ist wirklich ein sehr selbständiges Mädchen, intelligent, viel reifer als andere in ihrem Alter und …«
Stephan räusperte sich und unterbrach Hölzinger: »Schon gut, erzähl weiter von dieser Hatice!«
Hölzinger bemühte sich um Sachlichkeit. Aber irgendwo in seiner Miene irrlichterte ein versonnenes Lächeln. »Weil die Schwestern sie schließlich zur Rede stellten, gestand Hatice ihnen eines Tages, dass sie einen Mann kennengelernt habe und plante, sich mit ihm eine Existenz aufzubauen. Wenig später gestand Hatice, dass sie schwanger war. Sie waren bestürzt und fragten sich, wie es Hatice unter diesen Umständen weiterhin gelingen sollte, ihre Identität geheim zu halten. Doch Hatice beruhigte die Schwestern. Sie hätte längst einen Plan. Auch finanziell sei alles in bester Ordnung. Sie verriet den Schwestern nicht, wer der Vater des Kindes war, und bat sie dringend darum, sie nicht mehr zu besuchen. Daran hielten sie sich. Wenige Wochen später erfuhren sie durch uns von dem Mord.«
»Und den Eltern und den Geschwistern hat Sümeyye vorgegaukelt, dass die eigene Schwester gestorben ist? Das kann doch nicht sein!«, entrüstete sich Stephan.
»Nein, die ganze Familie war eingeweiht. Die Brüder und der Vater haben ja ständig ihre Beziehungen spielenlassen, um herauszubekommen, ob sich einer von dem Ciftci-Clan nähert. Davor hatten sie alle Angst, denn dieser Cousin muss ziemlich gefährlich sein.«
»Alle Achtung! So haben alle Familienmitglieder unter Einsatz ihres Lebens das Mädchen geschützt!«
»Ja, ich hoffe, dass das als strafmildernd für sie anerkannt wird. Was meinst du?«
Stephan verzog nachdenklich die Mundwinkel. »Was sind das überhaupt für Straftatbestände?«
»Falschaussage. Urkundenfälschung. Irreführung der Behörden. Vortäuschen einer Straftat.«
Stephan lachte bitter. »Die Straftat haben sie gar nicht vorgetäuscht, die war doch da, nur mit anderer Besetzung. Im Grunde ist es eigentlich unsere Schuld, dass wir das nicht gründlich genug überprüft haben.«
»Meinst du, die Onurhans kämen da noch einigermaßen gut bei weg?«
Stephan grinste. »Das wünschst du dir wohl?«
»Ja, das wünsche ich mir«, sagte Hölzinger düster.
»Hat Sümeyye Onurhan eine Idee, was mit dem Kind passiert sein könnte?«, fragte Stephan.
»Sie hat keine Idee. Sie glaubt noch nicht einmal, dass der leibliche Vater es mitgenommen hat, denn bei ihrem letzten Treffen mit Hatice hatte Sümeyye den Eindruck, dass der sich längst aus dem Staub gemacht hatte. Hatice wirkte so, als habe sie inzwischen alles allein geregelt.«
Stephan schlug sich auf den Schenkel. »Wenn wir diese Neuigkeiten Heck erzählen, wird das seine Laune nicht gerade heben. Aber immerhin, es wird ihn ablenken.«
»Wovon?«
»Von – hm – anderen Irrwegen. Übrigens habe ich kurz vor dir die Nachricht von der wahren Identität der Toten auch erhalten.«
Hölzinger fuhr auf: »Woher?«
»Von Radio Micky Maus. Ich denke, das ist eine Quelle, an der man unbedingt dranbleiben muss.«
»Woher kann er das wissen? Von Erkan, Sümeyyes Bruder?«
»Möglich, aber dieser kleine Kerl hat seine Nase überall, wer weiß, welche Quellen er noch anzapft. Irgendwie hat man bei ihm immer den Eindruck, der hat noch etwas in der Hinterhand. Richtig in die Augen sehen kann er einem meist auch nicht.«
»Das hat nichts zu sagen!«, rief Hölzinger. »Du musst wissen, in seiner Kultur gilt es als aufmüpfig, wenn man einer Respektsperson direkt in die Augen blickt. Es ist also eher ein Zeichen von Respekt und Höflichkeit, wenn er dich
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