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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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er kleinlaut.
    Stephan betrachtete den Jungen mitleidig. »Da kann man verstehen, dass du lieber außer Haus bist und deine Hausaufgaben in der Bibliothek anfertigst. Und mit dem Taschengeld ist es wahrscheinlich auch nicht so üppig?«
    Micky Maus schob die Lippen vor und zuckte mit den Schultern. »Ich komme zurecht«, erklärte er. »Den Stadtführer müsste ich Ihnen allerdings verkaufen. Wir haben Unkosten.«
    »Klar«, bestätigte Stephan.
    Einen Moment standen beide da und beobachteten das Treiben in der Fußgängerzone. Eigentlich war das Gespräch beendet, und man hätte sich verabschieden können, doch Abdel blieb stehen und starrte auf das Pflaster zu seinen Füßen.
    »Ist noch was?«, fragte Stephan.
    »Wie läuft es eigentlich in dem Fall mit der toten Frau?«, fragte Abdel.
    Stephan durchzuckte es wie ein Blitz. Da war es wieder! Das, was ihm neulich keine Ruhe gelassen hatte, diese kleine, merkwürdige Ungereimtheit. Jetzt bemerkte er erneut, was ihm damals aufgefallen war. Warum sprach Abdel als Erkans Klassenkamerad nicht von »Erkans Schwester« oder sagte »Özlem Onurhan«, der Name musste ihm doch geläufig sein? Warum sprach er so distanziert von »der toten Frau«. Und warum erkundigte er sich überhaupt danach?
    »Eigentlich darf ich dir so was nicht mitteilen«, eröffnete Stephan, »aber einer wie du, der viel in Offenbach herumkommt, könnte vielleicht mit hilfreichen Informationen beitragen.«
    Abdel nickte bestätigend. »Ich helfe immer gern. Erkan sagt, dass Sie ihn verdächtigen.«
    »Hat er denn etwas damit zu tun?«, fragte Stephan vorsichtig.
    Abdel schüttelte vehement den Kopf. »Erkan ist in Ordnung! Die Familie auch. Die müssen Sie in Ruhe lassen! Die haben damit echt nichts zu tun. Von wegen Ehrenmord und so, das kann schon deshalb nicht sein, weil …« Abdel stockte jäh.
    »Weil was?«, hakte Stephan nach.
    Abdel rollte die Augen und verzog gequält das Gesicht. »Ich verstehe nicht, warum die Ihnen das nicht schon längst gesagt haben. Da machen die sich eher selbst schuldig, als dass sie damit herausrücken.«
    »Was sollen sie denn sagen?«
    »Eigentlich darf ich Ihnen das nicht verraten, aber eigentlich wäre es auch gut für Erkan, wenn das endlich einmal einer den Bullen steckt.«
    »Gut, dann raus mit der Sprache!«, forderte Stephan.
    Abdel schaute seinen Füßen zu, die über den Boden schabten. Dann sah er kurz auf. Er war sichtlich bemüht, sich einen bedürftigen Gesichtsausdruck aufzusetzen. In Gedanken sah Stephan im Spiegel von Abdels glänzenden Augen zwei Eurozeichen aufleuchten. Abdel schaute wieder zu Boden. Endlich hatte Stephan verstanden. Er zückte seine Brieftasche und zeigte Abdel einen Zwanzig-Euro-Schein. Abdels Hungerblick blieb. Stephan zog einen Fünfzig-Euro-Schein.
    »Danke«, hauchte Abdel, griff blitzschnell nach beiden Scheinen und ließ sie in seinen Hosentaschen verschwinden.
    Stephan verzog verblüfft das Gesicht. »Das muss aber echt was wert sein, was du mir jetzt sagst.«
    »Ist es auch«, bestätigte Abdel, »aber Sie haben es nicht von mir.«
    »Nein, nun rück schon raus damit!«
    Einen kurzen Moment starrte Abdel ins Leere, dann schaute er sich vorsichtig um und trat einen Schritt näher an Stephan heran. »Die Tote ist gar nicht Erkans Schwester, sondern eine andere Frau. Özlem lebt verheiratet in Frankfurt und heißt jetzt anders mit Nachnamen.«
    »Was?«, fuhr Stephan auf. »Das glaubst du doch selber nicht!«
    Abdel hielt den Zeigefinger vor den Mund. »Pssst. Ist aber so!« Dann hatte er es plötzlich eilig und zog davon.
    Stephan blickte dem kleinen Jungen kopfschüttelnd nach, wie er, die Fäuste in den Hosentaschen seiner Jeans, mit wiegenden Schritten zwischen den Passanten verschwand. Auf dem Rücken baumelte ein schlaffer, dunkler Rucksack.
    *
    Wenig später tauchte Hölzinger wie verabredet vor der Bibliothek auf. Auf seinem Gesicht lag eine rosige Milde, die alle harten Konturen glättete. Er lächelte sogar sanft, als er Stephan erblickte, was diesem sichtlich unangenehm war. Daher drängte er barsch: »Du bist zehn Minuten zu spät! Wir haben unsere Zeit nicht im Lotto gewonnen. Erzähl, was du rausgekriegt hast. Viel kann es wohl nicht sein.«
    Das Lächeln verschwand aus Hölzingers Gesicht, dennoch blickte er Stephan mit der verzeihenden Gelassenheit eines sanften Engels an. »Du wirst dich wundern. Wir haben eine völlig neue Konstellation in dem Fall, aber das muss ich dir erklären. Komm, lass uns in den

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