Das verschwundene Kind
Hat Mama sich bei dir über mich ausgejammert?«
»Nein, hat sie nicht, aber …«
Julia verzog ungläubig das Gesicht. Eigentlich wollte er ihr jetzt erklären, dass es den Verdacht gab, jemand habe sich Zutritt zu dieser Wohnung verschafft. Dann fiel ihm jedoch wieder ein, dass er Maren versprochen hatte, Julia damit nicht zu belasten, und er schwieg.
»Warum bist du überhaupt schon so früh hier? Laufen keine Gangster mehr frei herum, die du heute noch fangen kannst?«, fragte sie schnippisch.
Er erklärte ihr, dass da gleich jemand käme, der Marens alten Schrank kaufen wolle, und dass er für Maren die Verhandlungen führe. »Du tätest mir einen Gefallen, wenn du mich mit dem Typen allein ließest und in der Zeit in dein Zimmer gingst«, bat er.
Ihre Augen wurden schmal. »Kann ich nicht lieber im Wohnzimmer fernsehen?«
»Ja«, sagte er und schloss aus ihrem verschmitzten Grinsen, dass das etwas war, was Maren auf keinen Fall erlaubt hätte.
Kurz vor fünfzehn Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Stephan hatte sich vorbereitet. Die Handschellen und seine Waffe befanden sich griffbereit im Halfter an seinem rückwärtigen Hosenbund. Er zog die Tür auf und wusste mit seinem amtlich geprüften Menschenkennerblick auf Anhieb, dass die Gestalt da draußen auf dem Treppenabsatz alles andere als ein seriöser Antiquitätenhändler war. Der Mann trug ausgelatschte Turnschuhe, eine verwaschene Röhrenjeans, einen weiten Strickpullover in Self-made-Optik und eine speckige Ledertasche unter dem Arm. Sein schmutzig blondes Haar war von grauen Strähnchen durchzogen und im Nacken zu einem spärlichen Schwänzchen zusammengebunden. Sein Grinsen flackerte unsicher. Tja, der Kerl wunderte sich, dass ihm nicht die Frau geöffnet hatte, die in sein Beuteschema passte. Es dauerte keine fünf Sekunden, da hing er mit Handschellen gefesselt an dem Heizungsrohr, das offen unter der Flurdecke verlief. In dem Moment klingelte es abermals an der Tür. Stephan ließ sich davon nicht beirren und hielt seiner Beute die Waffe unter die Nase.
»Keinen Mucks jetzt!«, zischte er und erntete ein ängstliches, steifes Nicken.
Stephan spürte einen Luftzug im Rücken und wandte sich in Richtung Tür. Die Wohnungstür war anscheinend nicht ins Schloss gefallen, und derjenige, der draußen geklingelt hatte, konnte sie mit einem leichten Antippen öffnen. Dort stand ein älterer Herr mit säuberlich gescheiteltem, grauem Haar, in dunklem Anzug und mit altertümlicher Fliege. Seine knochigen Hände umfassten vor seinem Bauch eine glänzende, schwarze Ledermappe. Das Servicelächeln auf seinem Gesicht erstarb sofort, als sein Blick auf die Gestalt am Heizungsrohr und Stephans Waffenhand fiel. Blitzschnell wandte er sich um und stakste, so schnell es seine dünnen, alten Beine zuließen, die Treppe hinunter. Stephan trat mit dem Fuß die Tür zu und wandte sich seiner Zielperson zu.
»Na, Sportsfreund«, knurrte er, »mit dem Empfang hättest du wohl nicht gerechnet?«
Ein Stöhnen und ein Kopfschütteln waren die Antwort. Der Typ zitterte am ganzen Leib. Das war kein Profi, der würde schnell gestehen.
»So, du Möbelhändler, jetzt sagst du mir erst mal, wo ich deine Papiere finde!«
»In der Ledertasche«, flüsterte der Angesprochene. »Nehmen Sie bitte die Waffe weg!«
»Das hättest du wohl gerne.« Stephan lachte böse und zog mit dem Fuß die Tasche zu sich heran. In dem Moment wurde die Wohnzimmertür geöffnet.
»Hallo, Tom! Was macht ihr denn da für einen Mist?«, fragte Julia.
*
Es war kurz vor halb vier, als Maren Kinderwagen schiebend in Begleitung von Vera Schneck-Walz, die ihre quengelnde Zweijährige huckepack trug, durch die Toreinfahrt ihres Wohnhauses kam.
»Tut mir leid«, erklärte Vera, »das nächste Mal geht es vielleicht ein bisschen länger. Aber Tom wollte mich gleich nach seiner Schulkonferenz hier bei dir abholen. Wir haben einen Termin zur Wohnungsbesichtigung.«
»Mit den Kindern?«, fragte Maren. »Willst du sie nicht lieber bei mir lassen, sonst habt ihr gleich schlechtere …«
Maren verstummte mitten im Satz. Eigentlich hatten sie sich bereits gewundert, dass draußen auf der Straße ein Streifenwagen mit flimmerndem Blaulicht stand. Beide Frauen erstarrten, als sie zwei uniformierte Polizisten entdeckten, die mit gezückten Waffen im Hof standen und am Haus hinaufsahen. Neben ihnen befand sich ein sichtlich erschütterter, älterer Herr, den Maren nicht kannte.
»Treten Sie bitte
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