Das verschwundene Kind
geschlossenen Tür, auf der ein Kreis mit ineinanderfließenden Hälften in Schwarz und Weiß aufgemalt war. Veronika Kling wandte sich zu ihm um. »Meine Kollegin hat mir gesagt, dass Sie sowohl bei mir eine Shiatsu-Behandlung als auch bei ihr eine krankengymnastische Therapie wünschen?«
»Ja«, bestätigte er mit verlegenem Grinsen, »ich dachte, doppelt gemoppelt hält besser.«
Sie ging nicht auf seinen lockeren Ton ein, sondern entgegnete streng: »Eigentlich sollte man das trennen, aber ich verstehe es so, dass Sie heute einmal hineinschnuppern wollen, was Ihnen besser behagt?«
Er bestätigte mit stummem Nicken.
»Ich hoffe, Sie haben Zeit mitgebracht, denn eine Shiatsu-Sitzung dauert eine ganze Stunde.«
»Ja, ich habe Zeit«, erwiderte er.
Das war das Signal für sie, die Tür zu öffnen und in den Raum zu treten. Er folgte ihr einen Schritt und sah sich dann erst einmal um. Die Wände waren in verschiedenen Abtönungen von Apricot über Orange bis Rostrot gestrichen. An der Wand gegenüber hingen drei verglaste Rahmen mit Mandalas. In einer Ecke neben dem Fenster stand ein dünnbeiniges Tischchen aus dunklem Holz. Darauf befand sich in einer Schale eine Art ausgehöhlter, orangefarbener Kristall mit Beleuchtung, um den herum es plätscherte. Von dorther strömte ein intensiver Duft nach bitteren Orangen oder einem anderen Zitruszeug. An Möbeln gab es nur noch eine kleine, dunkle Kommode gleich neben der Tür. Ansonsten kein Tisch, kein Stuhl, nur eine dicke, rote, raumfüllende Matte auf dem Boden.
Ein wenig bereute er, dass er nicht heute Morgen noch einmal schnell im Internet recherchiert hatte, worauf er sich mit diesem Shiatsu eigentlich einließ. Vermutlich waren all die warmen Farben im Raum dazu gedacht, im Benutzer ein Gefühl von Entspannung zu erzeugen, doch bei ihm bewirkte es genau das Gegenteil, nämlich ein Alarmstufe-Rot-Gefühl. Das verstärkte sich noch, als er auf Veronika Klings Blick traf, die ihn bei seiner Besichtigung der Umgebung sehr genau studiert zu haben schien.
»Dass Sie noch keine Shiatsu-Erfahrung haben, weiß ich ja bereits von neulich, haben Sie aber überhaupt schon einmal Erfahrung mit TCM gemacht?«
TCM ? Dazu fiel ihm nur die Abkürzung jener Kaffeefirma ein, deren Regale in vielen Supermärkten zu finden waren. Das konnte die Kling nicht gemeint haben. Er hatte keine Lust, sich noch einmal lächerlich zu machen, und schwieg. »Traditionelle Chinesische Medizin«, erklärte sie kurz.
»Ach so, ja, Akupunktur«, gab er sein spärliches Wissen preis.
»Hat man Ihnen schon einmal Nadeln gesetzt?«, fragte sie. Wenn Shiatsu eine Art intensivierte Form von dieser Nadel-Spick-Methode war, würde er die Behandlung auf der Stelle verweigern. Es wäre die bessere Idee gewesen, die Kling einfach ins Präsidium zu bestellen und ohne Umschweife nach dem Zustand ihrer Ehe zu befragen, statt hier seine körperliche Unversehrtheit leichtsinnig aufs Spiel zu setzen.
»Shiatsu orientiert sich wie die Akupunktur an den Meridianen, aber es ist nicht auf einzelne Punkte fixiert, sondern es regelt die Energieflüsse im Ganzen. Auch werden keine Nadeln verwendet. Shiatsu kommt aus dem Japanischen und bedeutet Fingerdruck. Es ist die Kunst der Berührung, um Blockaden zu lösen und das Qi fließen zu lassen«, schloss sie ihren kleinen Vortrag, den sie ohne besondere Betonung heruntergeleiert hatte.
Er hatte für sich die beruhigenden Botschaften entnommen, dass es keine Nadeln gab und dass es lediglich der Entspannung diente, also eine Art Massage war. Das war harmlos und ließ sich aushalten.
Er griff sich in den Nacken und sagte: »Entspannung, genau das ist es, ich habe …«
Sie hielt sich den Zeigefinger vor den Mund. »Schscht«, zischte sie mit der Liebenswürdigkeit einer Kobra, »das sollen Sie mir nicht mitteilen! Ich werde alles selbst herausfinden.«
Er verzog staunend das Gesicht. Sie hatte jetzt das Lächeln einer Wahrsagerin in einem düsteren Jahrmarktszelt und sagte: »Wir können noch nicht anfangen. Ich spüre, dass Sie noch nicht bereit sind, sich wirklich einzulassen. In Ihnen strömen noch die verschiedenen Energieflüsse gegeneinander. Yin und Yang sind alles andere als im Ausgleich. Wir sollten daher mit einer einfachen Entspannungsübung beginnen.« Er verstand nichts von ihrem Kauderwelsch, befolgte jedoch brav ihre Anweisungen. Sie setzten sich beide nebeneinander im Schneidersitz mit Blick zum Fenster auf die weiche Matte. »Das Fenster geht
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