Das verschwundene Kind
zurück in die Einfahrt, das ist sicherer«, sagte einer der Polizisten. »Und das machen Sie jetzt am besten auch«, sagte er zu dem alten Herrn und wedelte mit der Waffe.
»Ist etwas passiert?«, flüsterte Maren, die sofort daran dachte, dass Julia sich allein in der Wohnung befand.
»Bedrohung mit einer Schusswaffe. Oben im ersten Stock«, kam die schnelle Antwort.
»Erster Stock?«, schrie Maren auf. »Aber da wohne ich! Meine Tochter ist da oben!«
»Wie alt?«, fragte der Polizist. »Zehn Jahre«, wimmerte Maren und sah zu, wie der Polizist in sein Sprechfunkgerät sagte: »Es ist nicht auszuschließen, dass sich ein zehnjähriges Mädchen in der Gewalt des Täters befindet.«
In Marens Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ein Alptraum! War die Gestalt, die sie seit langem bedrohte, am helllichten Tag in ihre Wohnung eingedrungen? Und Julia? Wurde sie mit einer Waffe bedroht?
»Was verlangt der Täter denn?«, fragte Vera Schneck-Walz erstaunlich nüchtern.
Der Polizist schob die Unterlippe vor. »Nichts. Er verlangt nichts, der Herr hier hat ihn im Flur mit einer Waffe gesehen, und dass er einen anderen Mann damit bedroht hat.«
Maren schüttelte den Kopf, als wolle sie ihre Gedanken ordnen. Dann fiel ihr ein, dass Lars eigentlich längst hier sein musste. Vielleicht war alles ganz anders. Der heimliche Besucher hatte einzubrechen versucht und war Lars in die Arme gelaufen. Der hatte ihn mit der Waffe gestellt und verhaftet. Endlich. Sie atmete erleichtert auf und sagte dann mit fester Stimme: »Hören Sie! Ich kann das erklären, das muss ein großes Missverständnis sein!«
»Wieso?«, fragte der Polizist. Maren grübelte. Wie würde es ihr gelingen, die Zusammenhänge in Kürze plausibel darzustellen?
»Mein Lebensgefährte«, begann sie.
»Sie meinen, der ist das da oben in der Wohnung?«, fragte der Polizist.
Maren nickte. Inzwischen waren noch zwei Streifenwagen eingetroffen. Vier weitere Polizisten stürmten in den Hof. Rundherum in der Nachbarschaft öffneten sich die Fenster. »Sie meint, die Person oben in der Wohnung ist ihr Lebensgefährte«, erklärte der Polizist seinen Kollegen.
»Wissen Sie, ob Ihr Lebensgefährte im Besitz von Waffen ist?«, fragte ein Polizist, der durch sein Gebaren deutlich signalisierte, dass er hier so etwas wie der Einsatzleiter war.
Maren wandte sich ihm zu und nickte. »Klar hat er eine Waffe.«
Das Gesicht des Polizisten verdüsterte sich. Maren erklärte weiter: »Er hat genau wie Sie eine Waffe, denn er ist bei der Po…«
»Post«, fiel ihr Vera Schneck-Walz laut und deutlich ins Wort.
Die Polizisten blickten entgeistert auf die beiden Frauen. Bevor Maren noch weiter zur Klärung beitragen konnte, hoben alle die Köpfe. Auf dem Balkon im ersten Stock war scheppernd die Glastür geöffnet worden. Lars erschien am Geländer, neben ihm Tom, Veras Mann, beide trugen geöffnete Bierflaschen in den Händen und beugten sich neugierig über das Geländer. Jetzt erschien auch Julia und schaute amüsiert nach unten. Durch die Gitterstäbe konnte man sehen, wie sich zwischen den Beinen der Menschen maunzend ein roter Kater hindurchschlängelte.
»Hallo, Mama«, rief Julia winkend. »Hier ist vielleicht was los!«
*
Auch der Rest des Tages gehörte der Kategorie an, die Lars Stephan am liebsten für immer von seiner körpereigenen Festplatte gelöscht hätte. Letztendlich war auch noch Heck in der Wittelsbacher Allee aufgetaucht. Heck hatte es tatsächlich fertiggebracht, die Schuld auf sich zu nehmen und den Frankfurter Kollegen weiszumachen, dass dies eine verdeckte Aktion gewesen sei, die er angeordnet habe. Er verstand es, die Spur mit dem Antiquitätenhändler so plausibel zu erklären, dass die Frankfurter ernsthaft zusagten, dem weiter nachgehen zu wollen. Heck entschuldigte sich, dass er das alles nicht früher mit den Frankfurtern abgesprochen hatte, das werde so schnell nicht wieder vorkommen, und »Jungs, wenn es für euch mal was Ähnliches in Offenbach gibt, werden wir auch nicht empfindlich reagieren«.
Die Frankfurter versicherten, dass es ihnen niemals einfallen würde, die Stadtgrenze nach Offenbach zu überschreiten, und die Versammlung löste sich gutgelaunt und mit dem gegenseitigen Versprechen, sich einmal zum Äppelwoi zu treffen, auf. Die Nachbarn schlossen wieder ihre Fenster. Die Presse erhielt im Polizeibericht die Information: In der Wittelsbacher Allee habe eine gemeinsame Übung der Offenbacher und Frankfurter Polizei zur
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