Das verschwundene Kind
Leseturms. Kaum war er oben angekommen, wurde er am Arm in einen schmalen Gang hinter einem langen Bücherregal gezogen … von Hölzinger. Er nickte in Richtung einer Lücke zwischen den Büchern. Von dort hatte man einen Blick zu verschiedenen Tischen, die in lockerer Reihe zwischen den Regalen aufgestellt waren. Die meisten waren von einzelnen Menschen besetzt, die über Bücher gebeugt saßen, Notizen schrieben oder etwas auf dem Bildschirm eines Laptops verfolgten. Ganz vorn am Fenster sah er die Silhouetten von zwei Personen, die er sofort erkannte.
»Wie lange sind die schon hier?«, flüsterte Stephan.
»Der Kleine ist schon da gewesen. Sauer ist eben gerade gekommen und ich mit ihm«, erklärte Hölzinger.
Stephan nickte. Der Kleine war niemand anders als Abdel, der sich leise flüsternd mit Florian Sauer unterhielt. Florian Sauer griff in seine Jackentasche und zog einen Briefumschlag hervor, den er Abdel über den Tisch schob. Abdel blickte sich schnell um, dann nahm er den Umschlag an sich, kontrollierte den Inhalt unter der Tischplatte, legte den Umschlag in ein Buch, klappte es zu, stand auf und eilte zügig davon. Hölzinger und Stephan zogen sich weiter in den Gang zurück.
»Sollen wir hinterher und ihn kontrollieren?«, fragte Hölzinger.
Stephan schüttelte den Kopf. »Ich kann dir sagen, was in dem Umschlag ist: Geld! Der Kleine dealt mit Informationen. Es ist besser, wir halten uns noch zurück und wiegen die beiden in Sicherheit, bis wir mehr wissen. Also erst mal weiter observieren!«
Hölzinger nickte.
[home]
Mittwoch, der 24. Oktober
S tephan radelte zügig über die Kaiserlei-Brücke Richtung Frankfurt. Es war erst kurz nach vierzehn Uhr. Heute hatte er Heck um vorzeitigen Dienstschluss gebeten wegen eines privaten Termins, was dieser ohne großes Murren genehmigt hatte. Grund dafür war wohl, dass Stephan in den letzten Tagen, sogar am Wochenende, einige Überstunden angehäuft hatte. Anselm Kling war befragt worden wegen seiner möglichen Verbindung zu Hatice Ciftci. Angeblich wusste er nichts davon, dass sie nicht Özlem Onurhan hieß. Er habe sie zufällig in dem Lokal getroffen und als seine ehemalige Mitarbeiterin erkannt. Man habe zusammen an einem Tisch gegessen, und er hatte ihr das Angebot gemacht, wieder stundenweise in der Praxis zu arbeiten. Wenn jemand dieses Gespräch als »vertraulich« wahrgenommen haben wollte, dann sei das sehr weit hergeholt.
»Wer war denn Ihr Informant?«
Sie hatten Svenja Stummers Namen nicht erwähnt. Dr. Kling hatte wie immer ziemlich aufgedreht und nervös gewirkt und sich ständig geschneuzt.
»Wenn der nicht kokst, fresse ich einen Besen.« Hecks Einschätzung deckte sich mit dem, was auch Stephan früher vermutet hatte. Besonders hektisch wurde Dr. Kling, als sie ihn danach befragten, ob er von einer Schwangerschaft oder einem Kind bei Hatice Ciftci etwas gewusst habe. Er verneinte das vehement, und beide Polizisten waren sich einig, dass Dr. Kling log. Es war die alte Leier des Polizistenalltags: Immer weiter ermitteln, immer neue Informationsquellen erschließen, Spuren sichern und bewerten. Die meisten Täter gaben nur das zu, was man ihnen nachweisen konnte. Ähnlich war es auch mit Florian Sauer. Gestern hatten Heck und Stephan ihn zur Befragung ins Präsidium bestellt. Sauer war gleich mit dem Familienanwalt erschienen. Ein wenig verblüfft war er, als Stephan ihn zunächst mit der Begegnung in der Bibliothek konfrontierte. Dann jedoch hatte er eine passende Antwort parat: In dem Umschlag sei Geld gewesen, das Florian Sauer dem älteren Bruder Abdels schuldete. Dieser Bruder namens Mohamed sei ihm bekannt, da er auch bei den Sanitätern arbeite. Er habe Florian einmal mit fünfzig Euro ausgeholfen, die er zurückbezahlt habe.
»Für mich sah das ziemlich konspirativ aus«, kommentierte Stephan und wurde sofort von dem Anwalt in die Schranken gewiesen.
Auf die nächste Frage waren der Anwalt und Florian Sauer vorbereitet. Heck konfrontierte sie mit dem Ergebnis des Vaterschaftstests. Florian Sauer gab zu, vor vielen Monaten mit Hatice Ciftci ein kurzes Verhältnis gehabt zu haben. Er habe das noch vor seiner Verlobung mit Svenja Stummer beendet. Als Hatice Ciftci ihn mit der Schwangerschaft konfrontiert habe und sich weigerte, einer Abtreibung zuzustimmen, habe er ihr regelmäßig Geld gegeben und ihr versprochen, für den Unterhalt aufzukommen. Wo und wie sie das Baby zur Welt gebracht habe, wisse er nicht. Er habe keinen
Weitere Kostenlose Bücher