Das verschwundene Kind
dass man selbst die Bäume des nahen Dreieichparks nur schemenhaft erkennen konnte. Was haben wir übersehen? Diese Frage drehte sich seit gestern wie eine Endlosschleife in seinem Kopf und blockierte jeden klaren Gedanken. Manchmal hatte er das Gefühl gehabt, dass es da etwas gab. Es trieb irgendwo unter der Oberfläche, tauchte kurzzeitig auf und verschwand wieder, bevor man es greifen konnte. Eigentlich hatten sie schon sehr viel ermittelt. Bestimmt war längst eine wichtige Spur dabei, der sie einfach noch nicht genug Beachtung geschenkt hatten. Wir müssen noch einmal von vorn anfangen, hatte Ernestine gesagt. Von vorn anfangen ist viel leichter, als mittendrin zurück auf Start zu gehen. Er hatte das Gefühl, in seinem Kopf sei eine überfüllte Rumpelkammer, in der man nichts mehr finden konnte. Er brauchte Leere im Kopf. Er brauchte ein Reset. Plötzlich hatte er eine Idee. Er schob alle Akten auf der Schreibtischplatte beiseite und setzte sich, das Gesicht dem Fenster zugewandt, im Schneidersitz auf die Platte. Führte das eigentlich nach Osten hinaus? Nein, das war wohl eher Südwest. Na ja, wird auch gehen. Bei dem Nebel gibt es ohnehin keine Himmelsrichtungen mehr. Er legte die Handrücken locker auf den Knien ab und formte mit den Fingern das Apan-Mudra. Einen Moment noch schaute er hinaus in den Nebel. Dann schloss er die Augen. Die Gedanken an den Fall lösten sich in weiße Schwaden auf. Er konzentrierte sich auf den Druck, den er mit Mittel- und Ringfinger gegen den Daumen ausübte. In der Mitte der Handfläche wurde es warm. Das Gefühl für die Zeit verschwand.
Die Bürotür schwang auf. Hölzinger stand im Raum und schaute entgeistert auf Stephans Schreibtisch. Entgegen Hölzingers Erwartung schreckte Stephan nicht zusammen, sondern wandte sich mit erhabener Langsamkeit und einem milden Lächeln im Gesicht in Richtung des Kollegen.
Hölzinger fand seine Sprache wieder: »Kann man dir irgendwie helfen?«, fragte er ein wenig atemlos.
»Danke, alles in bester Ordnung«, erklärte Stephan und kletterte schwungvoll von der Tischplatte. Er hielt sich an der Lehne des Schreibtischstuhls fest und schüttelte die Beine aus. Hölzinger beobachtete ihn sorgenvoll. Heck kam herein und betrachtete finster die beiden Kollegen, die im Raum standen und wirkten, als hätten sie nichts zu tun.
»Du sollst dringend Frank Günther anrufen«, richtete Hölzinger aus.
Heck griff zum Telefon. »Warum sagt er es nicht gleich dir, wenn es etwas Wichtiges ist?«
Hölzinger zuckte mit den Schultern. »Er wollte es unbedingt dir persönlich mitteilen.«
Heck seufzte. »Was das schon wieder sein soll!« Und er griff zum Hörer. Eine Weile lauschte er stumm. Seine Miene glich einer aufziehenden Gewitterfront. Dann grollte er los: »Ich weiß ja, dass ihr überlastet seid. Ich weiß, dass die Wohnung der Schröder eine besondere Herausforderung war. Trotzdem! Warum erfahre ich das erst jetzt? Aha. Und an wen ging die Nachricht? – Das glaube ich nicht!«
Heck schaute in Richtung Stephan, der sich daraufhin sofort wie ein vom Lehrer ermahnter Schüler auf seinem Stuhl zurechtsetzte. Hölzinger ließ sich auf die Tischkante sinken. Heck hatte inzwischen aufgelegt und starrte eine Weile zum Fenster hinaus. Dann begann er mit bedrohlich leiser Stimme: »Sie haben das Handy von der Stummer untersucht. Die letzte Nachricht ihres Lebens war eine SMS . Sie lautete: Ich weiß, wo das Kind ist.«
Heck durchbohrte Stephan mit seinen Blicken: »Fällt euch etwas dazu ein?«
Stephan reagierte sofort: »Dann war diese Nachricht vielleicht ihr Todesurteil.«
Heck nickte übertrieben langsam.
»Wenn man weiß, an wen sie die Nachricht geschrieben hat, hat man den Mörder«, erklärte Hölzinger.
Heck nickte noch einmal, wieder auf diese provozierend langsame Art. »Ja, den hat man dann.« Ein schreckliches Grinsen breitete sich über Hecks Gesicht aus. Stephan verfolgte das Schauspiel mit argloser Miene.
»Weiß man denn, an wen die SMS ging?«, fragte er. Heck nickte wieder, und sein Zeigefinger richtete sich ganz langsam auf und deutete in Stephans Richtung.
»An Lars? Das kann nicht sein!«, fuhr Hölzinger auf.
»Es ist aber so. Kein Zweifel«, erklärte Heck. »Und jetzt hätte ich gerne eine Erklärung von dir!«
»Ich habe keine SMS bekommen«, entgegnete Stephan ehrlich entrüstet. Er wühlte unter den Papieren nach seinem Handy und reichte es Heck über die Tischplatte. Hecks breite Finger machten sich über die
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